: Torsten Schulz
: Nilowsky Roman
: Klett-Cotta
: 9783608104301
: 1
: CHF 14.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 285
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Markus Bäcker ist alles andere als begeistert, als er mit seinen Eltern an den Rand von Berlin zieht. Dort blickt er vom dritten Stock ihres Eckhauses auf ein stinkendes Chemiewerk und vorbeiratternde Züge, die alles zum Vibrieren bringen. Erst als er Nilowsky kennenlernt, wird ihm die Gegend um den Bahndamm zur Heimat. Eine Heimat voller Merkwürdigkeiten und intensiver Erfahrungen. Dazu gehören kuriose Anwendungen von Vodoo-Ritualen, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen. Erotische Annäherungen einer Frau, die nicht älter als dreizehn sein will, sowie perfide Vertrauensforderungen von Seiten Nilowskys, die ihn fast das Leben kosten. Abgründe und Höhepunkte des Erwachsenwerdens, die Markus Bäcker ein Leben lang nicht loslassen werden. Mit großer Intensität und viel Humor schildert Torsten Schulz eine eigenartige Dreiecksbeziehung in den Wirren der Pubertät.

Torsten Schulz, geboren 1959, ist Autor preisgekrönter Spielfilme, Regisseur von Dokumentarfilmen und Professor für Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg. Sein Debütroman »Boxhagener Platz« wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt. Die Hörspieladaption erhielt diverse Preise. Torsten Schulz lebt in Berlin.

7


Zwei Wochen später, an einem dunklen, verregneten Nachmittag Ende Oktober, sagte er, kaum dass er mich auf dem Nachhauseweg abgepasst hatte: »Muss zu Wally, muss ich. Soll ihr von Roberto was ausrichten. Willst du mitkommen?«

Ich antwortete nicht, sondern blieb einfach an seiner Seite. Wir gingen durch eine fast zwei Kilometer entfernt liegende Bahndammunterführung. Nachdem wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren, sagte Nilowsky: »Niemand soll sehen, dass wir zu Wally gehen. Deshalb der Umweg.« Ich fühlte mich, als sei ich an einer geheimen Mission beteiligt; von mir aus hätte der Umweg noch größer sein können.

Schließlich standen wir vor einem vierstöckigen Haus, auf der anderen Seite des Chemiewerks. Nilowsky klopfte in einem bestimmten Rhythmus – zweimal lang, zweimal kurz – gegen eine heruntergelassene Jalousie im Erdgeschoss. Die Jalousie wurde hochgezogen und das Fenster geöffnet. Nilowsky stieg in die Wohnung, und ich folgte ihm.

Wally war klein und kräftig und Anfang fünfzig. Wie viele Frauen in dieser Zeit trug sie eine Kittelschürze aus Dederon. Ihre braune Haarfärbung war fast herausgewachsen aus den glatt nach hinten gekämmten grauen Haaren, die ihr einen Ausdruck von Strenge gaben. »So ein Mistwetter aber ooch«, sagte sie. »Will man nischt von mitkriegen.«

Sie ließ die Jalousie wieder herunter und fragte Nilowsky: »Wat willste? Und wen haste da mitjebracht?«

»Das ist ein Freund von mir. Der ist absolut vertrauenswürdig, ist er.«

Ich fühlte mich noch mehr als zuvor wie auf einer Geheimmission. Und dass mich Nilowsky als Freund bezeichnet hatte, trieb mir vor Freude die Tränen in die Augen. Zugleich ängstigte es mich, weil ich nicht wusste, was er mir als Freund alles zutrauen würde.

»Wusste gar nich, dass du Freunde hast«, sagte Wally, doch dann musste sie gesehen haben, wie sehr sie ihn mit dieser Bemerkung getroffen hatte, und schickte schnell hinterher: »Ick freu mir, dass du mal wieder jekomm bist. Ick freu mir sehr.«

Mit diesen Worten nahm sie Nilowsky in die Arme, der sich, damit das überhaupt möglich war, weit zu ihr hinabbeugte.

»Ich soll dir was von Roberto ausrichten«, sagte er und löste sich aus ihrer Umarmung.

»Wat will der mir denn ausrichten?«, fragte Wally, obwohl sie sich das, wie es den Anschein hatte, schon denken konnte.

»Er will, dass du wieder kommst. Das will er. Dass du wieder dabei bist, will er.«<