1.
Fünf Tage vor L.O.T.
So hört denn meine Geschichte, die so lange währt wie die Geschichte unseres Volkes seit dem Zeitpunkt, als die Wende kam, als das Volk den Scheideweg erreichte und den Pfad zur Vollkommenheit beschritt. Wir bezeichnen es heute als das Zeitalter der Ersten Hyperdepression, und zehntausend Jahre nach seinem Beginn kam der Moment, der als neuer Anfang initialisiert wurde. Hört, was ich euch zu sagen habe, damit ihr verstehen lernt, wie alles begann und was daraus wurde. Alle Fragen will ich euch beantworten. Hört zu in Ehrfurcht und lernt, was ich euch zu sagen habe.
Es wird euch nicht gefallen.
*
»Wer kann mir etwas über unser System erzählen?«, fragte Lucba Ovichats Holo-Simulation in die Runde. Dreizehn Kinder waren dem Verbund angeschlossen. Der materielle Körper jedes Kindes befand sich dabei in seinem Zuhause, während das exakte Abbild seiner Gestalt, gesteuert von seinem Bewusstsein, in einem holografischen Raum zusammen mit den Mitschülern der Indoktrinatorin lauschte.
Sie standen oder saßen, wie es ihnen beliebte, und hatten lediglich das simulierte Eingabefeld vor sich. Der Raum selbst hatte keine Einrichtung, keine Bezugspunkte, abgesehen von den umherwabernden Farbstimulationen, die sich positiv auf Kreativität und Aufnahmefähigkeit auswirken sollten.
Acht Kinder waren männlichen, fünf weiblichen Geschlechts, zu unterscheiden waren sie in diesem Alter nur durch die Farbe der Kleidung: Die Mädchen waren von Bunt umhüllt, die Knaben trugen ein blasses Grün.
Sie waren alle klein und dünn, kaum mehr als ein junger Halm, das Pigasoshaar gerade so lang wie ein mittleres Fingerglied. Ein überflüssiges Relikt. Die Zeit, als die Vorfahren damit noch etwas fühlen konnten, war schon sehr lange vergangen. Niemand konnte mehr sagen, ob es ein Verlust war.
»Nun?«, hakte die Indoktrinatorin nach. »Habt ihr vergessen, was ich euch erst gestern lehrte?«
Die Stimmausgabe modulierte so originalgetreu wie möglich. »Ich weiß es«, erklang eine piepsige Stimme, und ein Mädchen bearbeitete eifrig die Eingabe, während sein virtueller Mund sich bewegte. »Das Zentrum des Vat-Systems wird beherrscht von Vatar, die uns das Leben schenkt.«
»Unsere Augen sind ihr Auge!«, warf ein Junge lebhaft ein. »Wir sind Kinder der Sonne!«
»Und der Nacht«, fügte ein anderer Junge hinzu. »Denn so finster ist unsere Haut.«
»Und das macht uns zu den Herrschern über Tag und Nacht und alles andere«, ergänzte der dritte Knabe, und alle acht beglückwünschten einander gegenseitig dazu.
»Das ist wahr«, sagte Lucba zufrieden, denn die Kleinen hatten ihr tatsächlich einmal zugehört. So jung waren sie noch begeisterungsfähig. Die Älteren interessierten sich kaum für die Vergangenheit; und doch, davon war die ausgebildete Historikerin überzeugt, lag genau darin der Schlüssel zur Zukunft.
Usgan Faahr hatte zu dieser Meinung spöttisch bemerkt, dass sie das nur als Ausrede benutzte, um sich für ihren wenig angesehenen Beruf nicht schämen zu müssen. »Du hättest so viele Möglichkeiten gehabt, wieso tust du dir das an?«
»Weil es keine Ausrede ist«, hatte sie erwidert und hartnäckig an ihrem großen Plan festgehalten.
Das kleine Mädchen fuhr fort: »Unser System weist insgesamt neun Planeten auf: Jas, Nag, Vat, Her, Tak, Wiv, Fog, Pem und Lax.«
»Das sagen die Frauen, die allen Dingen immer so viele Namen geben müssen«, spottete ein Junge. »Vatar I bis Vatar IX ist ja wohl völlig ausreichend als Bezeichnung.«
»Dann reicht für euch Männer auch eine einzige Bezeichnung«, warf ein Mädchen angriffslustig ein. »Wozu braucht ihr zwei Namen? Einer genügt vollkommen!«
Sofort erhielt es Unterstützung: »Das ist doch immer noch zu frauenbezogen. Mann 0 bis 0000000000 wäre die zutreffendste Definition!«
Die Mädchen lachten, die Jungen waren wütend, und Lucba sah sich genötigt einzugreifen, bevor es zum Eklat kam. Diese Kinder waren sich der gesellschaftlichen Situation bereits voll bewusst. Von Geburt an wurden sie in alles involviert und waren gesegnet mit einer schnellen Auffassungsgabe. Der Geist entwickelte sich viel schneller als der kindliche Körper.
»Ruhe!«, befahl Lucba streng. »Wir sprechen von unserem System, nicht von unserem Volk.«
»Aber das hängt doch zusammen«, protestierte der Spötter von vorhin. »Das System ist nichts ohne uns.«
Und wir nichts ohne das System, dachte die Historikerin.Genau darum geht es ja.
Die Arbeit mit den Kindern hatte sie seinerzeit auf die Idee gebracht: Es ging um den entscheidenden Unterschied zwischen Mann und Frau, weil Frauen Dingehörten, die Männern für immer verborgen blieben. In all den Jahrtausenden, seit es begonnen hatte, hatten die männlichen Vatrox nie eine ähnliche Fähigkeit entwickelt, nicht einmal in Ansätzen.
Männer und Frauen. Als würden sie heutzutage verschiedenen Spezies angehören, obwohl sie sich äußerlich kaum voneinander unterschieden. Es gab nur sehr wenige Berührungspunkte zwischen ihnen, und nur zu seltenen Gelegenheiten kamen sie zusammen.
Aber warum war das so? Was genau hatte sich gewandelt? Wie konnte so etwas geschehen?
Es musste mit den Verhältnissen dieses Systems zusammenhängen. Lucba hatte sich auf die Suche nach den Hintergründen gemacht und war immer tiefer in die Vergangenheit hinabgetaucht, trotz der Bedenken anderer.
»Dreh dich nicht um«, hatte ihre Mutter sie einst gewarnt. »Du könntest Dinge entdecken, die du nicht sehen willst.«
Doch Lucba hatte sich nicht beirren lassen. Jahrelang hatte sie an einem technischen Modell gearbeitet, das ihre Vermutungen und Schlüsse »greifbar« machen sollte.
Das hatte sie niemandem erklären können; solange es nicht funktionierte, durfte sie nicht das Risiko eingehen, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Es war einfacher, das milde Belächeln wegen ihres Hangs zur Vergangenheit