Zweites Kapitel
Der»Mitrailleur de Lyon«
1793
Im Buche der Französischen Revolution wird gerade eins der blutigsten Blätter, der Aufstand von Lyon, selten aufgeschlagen. Und doch hat sich in kaum einer Stadt, selbst in Paris nicht, der soziale Gegensatz derart schattenscharf abgezeichnet wie in dieser ersten Industriestadt des damals noch kleinbürgerlichen und agrarischen Frankreich, dieser Heimat der Seidenfabrikation. Dort formen die Arbeiter inmitten der noch bürgerlichen Revolution von 1792 zum erstenmal schon deutlich eine proletarische Masse, schroff abgeschieden von der royalistisch und kapitalistisch gesinnten Unternehmerschaft. Kein Wunder, daß gerade auf diesem heißen Boden der Konflikt die allerblutigsten und fanatischsten Formen annehmen wird, die Reaktion sowohl wie die Revolution.
Die Anhänger der jakobinischen Partei, die Scharen der Arbeiter und Arbeitslosen, gruppieren sich um einen jener sonderbaren Menschen, wie sie jeder Weltwandel plötzlich nach oben schwenkt, einen jener durchaus reinen, idealistisch gläubigen Menschen, die aber immer mehr Unheil anrichten mit ihrem Glauben und mehr Blutvergießen mit ihrem Idealismus als die brutalsten Realpolitiker und wildesten Schreckensmänner. Immer wird es gerade der reingläubige, der religiöse, der ekstatische Mensch, der Weltveränderer und Weltverbesserer sein, der in edelster Absicht Anstoß gibt zu Mord und Unheil, das er selber verabscheut. Dieser in Lyon hieß Chalier, ein entlaufener Priester und ehemaliger Kaufmann, für den die Revolution noch einmal das Christentum wurde, das richtige und wahre, und der ihr anhängt mit einer selbstaufopfernden und abergläubischen Liebe. Die Erhebung der Menschheit zur Vernunft und zur Gleichheit bedeutet diesem passionierten Leser Jean Jacques Rousseaus schon Erfüllung des Tausendjährigen Reiches; seine glühende und fanatische Menschenliebe sieht gerade im Weltbrand die Morgenröte einer neuen, unvergänglichen Humanität. Rührender Phantast: als die Bastille fällt, trägt er in seinen bloßen Händen einen Stein der Zwingburg die sechs Tage und sechs Nächte Weg zu Fuß von Paris nach Lyon und baut ihn dort um zu einem Altar. Er verehrt Marat, diesen blutheißen, dampfenden Pamphletisten, wie einen Gott, wie eine neue Pythia; er lernt seine Reden und Schriften auswendig und entflammt mit seinen mystischen und kindischen Reden wie kein anderer in Lyon die Arbeiterschaft. Instinktiv spürt das Volk in seinem Wesen brennende, mitleidige Menschenliebe und ebenso die Reaktionäre in Lyon, daß gerade ein derart reiner, vom Geist getriebener, von Menschenliebe beinahe tollwütig besessener Mensch noch gefährlicher sei als die lärmendsten jakobinischen Unruhestifter. Gegen ihn drängt sich alle Liebe, gegen ihn ballt sich aller Haß. Und als ein erster Aufruhr sich in der Stadt bemerkbar macht, werfen sie als den Rädelsführer diesen neurasthenischen und ein wenig lächerlichen Phantasten in den Kerker. Mit Mühe klaubt man dann mittels eines gefälschten Briefes eine Anklage gegen ihn zusammen und verurteilt ihn zur Warnung für die anderen Radikalen und als Herausforderung gegen den Pariser Konvent zum Tode.
Vergebens sendet der entrüstete Konvent Boten auf Boten nach Lyon, um Chalier zu retten. Er mahnt, er fordert, er droht dem unbotmäßigen Magistrat. Aber nun erst recht entschlossen, den Pariser Terroristen endlich einmal die Zähne zu zeigen, weist der Gemeinderat von Lyon selbstherrlich jeden Einspruch zurück. Ungern haben sie sich seinerzeit die Guillotine, das Schreckensinstrument schicken lassen und unbenützt in einen Speicher gestellt: nun wollen sie den Anwälten des Schreckenssystems eine Lektion erteilen, indem sie das angeblich humane Werkzeug der Revolution erstmalig an einem Revolutionär erproben. Und gerade, weil die Maschine noch nicht erprobt ist, wird die Hinrichtung Chaliers durch die Ungeschicklichkeit des Henkers zu einer grausamen und niederträchtigen Folterung. Dreimal saust das stumpfe Beil nieder, ohne den Nackenwirbel des Verurteilten zu durchschlagen. Mit Grauen sieht das Volk den gefesselten blutüberströmten Leib seines Führers sich noch immer lebend unter dieser schandbaren Folter krümmen, bis schließlich der Henker mit einem mitleidigen Säbelhieb das Haupt des Unglücklichen vom Rumpfe trennt.
Aber dieses gefolterte Haupt, dreimal vom Beil zerschmettert, wird bald für die Revolution ein Palladium der Rache und ein Medusenhaupt für seine Mörder sein. Der Konvent schrickt auf bei der Nachricht dieses Verbrechens; wie, eine einzelne französische Stadt wagt offen der Nationalversammlung Trotz zu bieten? Eine solche freche Herausforderung muß sofort in Blut erstickt werden. Aber auch die Lyoner Regierung weiß, was sie nun zu erwarten hat. Offen geht sie von der Auflehnung gegen die Nationalversammlung zur Rebellionüber; sie hebt Truppen aus, setzt die Verteidigungswerke instand gegen Mitbürger, gegen Franzosen, und bietet offen der republikanischen Armee Trotz. Nun müssen die Waffen entscheiden zwischen Lyon und Paris, zwischen Reaktion und Revolution.
Logisch genommen, scheint ein Bürgerkrieg in diesem Augenblick Selbstmord für die junge Republik. Denn niemals war ihre Situation gefährlicher, verzweifelter, aussichtsloser. Die Engländer haben Toulon eingenommen, die Flotte und das Arsenal geraubt, sie bedrohen Dünkirchen, indes gleichzeitig die Preußen undÖsterreicher am Rhein und in den Ardennen vorstoßen und die ganze Vendée in Flammen steht. Kampf und Aufruhr durchschütteln die Republik von einer Grenze Frankreichs bis zur anderen. Aber diese Tage sind auch die