Genealogie als Kritik Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault
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Martin Saar
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Genealogie als Kritik Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault
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Campus Verlag
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9783593402833
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Theorie und Gesellschaft
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1
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CHF 36.30
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Allgemeines, Lexika
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German
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383
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Wasserzeichen
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PC/MAC/eReader/Tablet
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ePUB
Der Begriff der Genealogie steht seit Friedrich Nietzsche und Michel Foucault für eine radikale Form von Kritik: Genealogie stellt einen Wert, eine Institution, eine Praxis in Frage, indem sie deren historische Wurzeln freilegt. Martin Saar rekonstruiert genealogische Kritik als eine Kritik des Selbst, die uns erkennen lässt, welche Prozesse und Mächte uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und diese Kritik enthält ein Versprechen: Wenn die kontingenten Machtverhältnisse aufgedeckt werden, in die das Selbst verstrickt ist, kann es sich transformieren.
Martin Saar, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent für politische Theorie und politische Ideengeschichte am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt.
Kritik hat ihren Platz im Jetzt. Die in sozialen und politischen Zusammenhängen unverzichtbare Praxis des Neinsagens, der Zurückweisung von Behauptungen, Handlungen und Verfahren zielt auf das, was in der Gegenwart wahr, gültig und legitim ist. Im Kontext der philosophischen und politischen Frage nach der Möglichkeit von Kritik ist der Begriff der Genealogie seit Friedrich Nietzsche mit dem Versprechen einer Theorieform verbunden, in der die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die spezifische Herkunft der von ihr untersuchten Gegenstände einen kritischen Sinn bekommt, die Kritik des Heute also mit einem Wissen des Gestern zusammenfällt. Genealogische Kritik steht für eine radikale Analyse, die die historischen Wurzeln eines Werts, einer Institution oder einer Praxis freilegt und das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses richtet, um es durch den Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromittieren und zu delegitimieren. Diese Vorstellung ist auf ebenso scharfe Ablehnung wie begeisterte Zustimmung gestoßen. Während im Kontext vieler philosophischer Debatten gegen eine solche Konzeption der Vorwurf des »genetischen Fehlschlusses«, des ungültigen Schlusses von der Herkunft auf den Wert oder Unwert, erhoben wird, wird im Kontext vieler sozialwissenschaftlicher und historischer Diskussionen ohne Weiteres unterstellt, dass eine Erforschung von Herkünften und Ursprüngen eine kritische Funktion habe. Das vorliegende Buch hat sein Ziel darin, die Idee und den Anspruch einer solchen historisch-genetisch verfahrenden genealogischen Kritik zu rekonstruieren und systematisch zu verteidigen. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, dass sich bestimmte Texte tatsächlich so verstehen lassen, dass ihre Autoren Geschichtsschreibung mit kritischen Effekten oder kritischer Wirksamkeit betreiben und dass dies ein Projekt ist, das zwar auf anspruchsvollen methodologischen und systematischen Prämissen beruht, aber Funktionen übernimmt, die von anderen Theorien nicht erfüllt werden können. Der Weg zu diesem Nachweis führt zunächst zurück an den Ursprung der Idee der Genealogie selbst, nämlich zu den Texten Nietzsches und später Michel Foucaults, die von ihren Autoren selbst als Genealogien bezeichnet und zur Kritik eingesetzt wurden. An diesen Texten lässt sich ein Modell ablesen, das in der Tat ein bestimmter Modus kritischer Geschichtsschreibung, ein höchst spezifisches Verfahren ist. Dieses Verfahren erweist sich aber als komplexer, als es sowohl Kritiker als auch Verteidiger von Genealogie als Kritik unterstellen. Deshalb widerspricht der folgende Vorschlag, wie Genealogie bei Nietzsche, bei Foucault und in einem systematischen Sinn zu verstehen sei, sowohl der Ansicht, ihre Prämisse sei falsch - sie beruhe nämlich auf einem unzulässigen Schluss von Genesis auf Geltung -,wie auch der Unterstellung, eine genetische oder historische Betrachtung könne schon an sich, d.h. ohne weitere Spezifizierungen kritisch sein. Gegen die erste Partei lässt sich einwenden, dass Genealogie eindeutig kritische Geschichtsschreibung ist, und gegen die zweite, dass sie mehr als Geschichtsschreibung ist; der ersten Partei ist zu empfehlen, im gegenwärtigen Streit um die richtige Form der Kritik Genealogie als würdige Kandidatin anzuerkennen, weil sie eine besondere Form der Kritik ist; der zweiten ist vor Augen zu führen, dass es nicht ganz leicht ist, eine Genealogie zu schreiben, weil sie eine besondere Art von Text ist. Als Kritikform und als Textgattung hat Genealogie, wie sie sich im Anschluss an Nietzsche und Foucault verstehen lässt, ihre besonderen Regeln und Charakteristiken, und in dieser Spezifik liegt ihre Attraktivität auch für Fragestellungen, die nicht mehr die von Nietzsche und Foucault, sondern die eines kritischen Denkens der Gegenwart sind.