Kapitel 4
Es ging bereits auf die heißen Sommermonate zu. Der Wind hatte die Richtung gewechselt und trug von Norden trockene Luft über das Land.
Shorbo saß vor dem Haus und vertiefte sich in seine Aufzeichnungen und Schriften, die ihn oft stundenlang beschäftigten.
"Sha?"
Eine helle Mädchenstimme unterbrach die Konzentration des alten Mannes. Er runzelte die Stirn, hielt in der Bewegung inne und betrachtete den letzten Satz, den er soeben mit der Feder beenden wollte. Ein Prickeln auf der Haut verriet ihm, dass er beobachtet wurde, und so hob er den Kopf.
Vor dem Tisch stand ein kleines, aufgewecktes Mädchen, zierlich und schlank. Mit langen, braunen Haaren, die der Wind im leichten Spiel zurück wehte. In den Händen hielt sie einen Strauß wilder Blumen. Heute trugen ihre Augen ein tiefes Blau, klar wie der Himmel.
Shorbo spürte eine tiefe Wärme in sich, wie er sie so betrachtete. Sechs junge Jahre alt. Wo war nur die Zeit geblieben?
"Sha?!"
Sie legte den Kopf fragend zur Seite. Ein Lächeln zuckte um die Lippen des Kreisführers. Niemand außer Cashimaé nannte ihn Sha und es würde wohl auch niemand anderes wagen. Er liebte die Kleine über alles und manchmal fiel es ihm schwer, ihr Regeln oder Grenzen zu setzen, denn ihr Wesen hatte etwas Berauschendes, das jeden in seinen Bann zog, der in ihre Nähe kam. Ähnlich einem Aphrodisiakum. So tief und unschuldig, dass es fast schmerzte.
"Was möchtest du, Cashim? Du weißt doch, dass du mich nicht stören sollst, wenn ich am Arbeiten bin."
"Ja, ich weiß. Doch ich dachte, du möchtest gerne wissen, dass wir Besuch bekommen."
Er legte die Feder zur Seite und musterte sie."Woher weißt du das?"
Sie hob die Achseln und grinste verschmitzt, wobei ein kleines Grübchen auf ihrem Kinn erschien.
"Hm, weiß es einfach." Mit diesen Worten legte sie die Blumen auf den Tisch, drehte sich um und verschwand wieder in den hohen Gräsern, die das Haus umschlossen.
Verdutzt sah Shorbo ihr nach. Er schloss die Augen und öffnete seinen Geist. Eine Weile musste er suchen, bis er die Energieströme der Angekündigten fand.
Es war tatsächlich Besuch auf dem Weg zu ihnen.
Er schaute in die Richtung, in die das Kind verschwunden war. Sollte sie doch beginnen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln? Noch war es viel zu früh, ein Urteil darüber zu fällen, doch es war ein Anfang und dieser Anfang machte ihn stolz.
Shorbo besaß noch genügend Zeit, seine Unterlagen in die Hütte zu bringen und etwas Ordnung zu schaffen. Darum beneidete er die Hexen und Hexer. Ihnen war es möglich, solch lästige Arbeiten mit Hilfe der Hexerei zu erledigen. Den Magiern blieb dies leider versagt und so musste er es von Hand erledigen. Natürlich konnte er Gegenstände allein mit den Gedanken bewegen, doch es erforderte enorme Energie und jede Anwendung entzog dem Körper einen Teil davon, der wieder aufgeladen werden musste. Alles besaß eben seine Waage. Er verzichtete auf die Anwendung von Magie, wenn es sich nicht wirklich als notwendig erwies.
Shorbo stellte gerade die Blumen von Cashimaé in eine Vase aus Ton, als er das Stampfen von Pferdehufen vernahm. Er wischte sich die Hände an seiner grauweißen, bodenlangen Tunika ab, ergriff den schwarzen Stab und eilte in freudiger Erwartung nach draußen.
Filyma rutschte gerade von der sandfarbenen Stute und wandte sich um. Das Gesicht gezeichnet vom Staub des Weges, ließ sie die Kapuze des Reisemantels nach hinten fallen. „Meine Liebe!“ Sie drehte sich um und ihre weißen, ebenmäßigen Zähne wurden sichtbar. Sie legte die Hände übereinander und verbeugte sich. „Circanprefect, ich grüße Euch.“
Missbilligung trat in seine weisen Züge. „Ich bitte dich, zu viel der Höflichkeiten an einem solch bescheidenen Ort, wo keiner der Kreise verweilt.“