Einführung
Wenn ich frühmorgens auf der Wiese vor meiner Einsiedlerhütte sitze, habe ich über Hunderte von Kilometern hinweg die in den Himmel ragenden Gipfel des Himalaya vor Augen, die beim Sonnenaufgang erglühen. Die stille Schönheit der Landschaft wird ganz natürlich und übergangslos eins mit dem Frieden in mir. Hier bin ich wirklich weit weg vom Institut Pasteur, an dem ich vor fünfunddreißig Jahren über die Zellteilung geforscht und an der Kartierung von Genen auf dem Chromosom des BakteriumsEscherichia coli gearbeitet habe.
Das klingt nach einer ziemlich radikalen Kehrtwendung. Hatte ich der westlichen Welt entsagt? Entsagung ist, zumindest was den buddhistischen Sinn des Wortes angeht, ein vielfach missverstandener Begriff. Denn hier geht es nicht darum, etwas Gutes oder Schönes aufzugeben. Das wäre ja wirklich töricht! Vielmehr geht es darum, sich frei zu machen von unbefriedigenden Lebenserfahrungen, um sich stattdessen entschlossen in Richtung derjenigen Dinge zu bewegen, die wirklich wichtig sind. Es geht um Freiheit und Sinngebung – Freiheit von geistiger Verwirrung und den Problemen, die aus einer selbstbezogenen Haltung resultieren, und um Sinngebung durch Einsicht und Herzensgüte.
Als ich zwanzig war, wusste ich ganz genau, was ich nicht wollte – ein sinnloses Leben. Anderseits hatte ich keine Ahnung, was ich wirklich wollte. Meine Jugend war alles andere als langweilig. Ich kann mich noch genau an die Aufregung erinnern, als ich mit sechzehn die Möglichkeit hatte, mich mit einem meiner Freunde, einem Journalisten, und Igor Strawinsky zum Mittagessen zu treffen. Jedes Wort, das er sprach, habe ich aufgesaugt. Er schrieb mir ein Autogramm in eine Kopie der Partitur vonAgon, einem seiner damals weniger bekannten Werke, das ich besonders gern mochte. Die Widmung lautete: »Für Matthieu –Agon, das ich selbst sehr gerne mag.«
In dem großen Kreis von Intellektuellen, in dem meine Eltern sich bewegten, herrschte an faszinierenden Begegnungen kein Mangel. Meine Mutter, Yahne Le Toumelin, eine bekannte Malerin voller Lebensfreude, Poesie und menschlicher Wärme, die später buddhistische Nonne wurde, war mit großen Persönlichkeiten des Surrealismus und der zeitgenössischen Kunst befreundet, darunter André Breton, Leonora Carrington und Maurice Béjart, für den sie viele Theaterkulissen gemalt hat. Mein Vater, der unter seinem Schriftstellerpseudonym Jean-François Revel zu einer der Säulen des intellektuellen Lebens in Frankreich wurde, organisierte unvergessliche Abendessen mit den großen Denkern und kreativen Köpfen seiner Zeit: zum Beispiel Luis Buñuel oder Emmanuel Cioran, dem verzweifelten Philosophen; Mario Suares, der Portugal vom Joch des Faschismus befreit hat; Henri Cartier-Bresson, dem »Auge des Jahrhunderts«, und vielen anderen.
Im Jahr 1970 schrieb mein Vater das BuchUns hilft kein Jesus und kein Marx, in dem er seine Ablehnung von politischem wie religiösem Totalitarismus zum Ausdruck brachte. Dieses Buch hielt sich ein ganzes Jahr lang in den Bestsellerlisten der USA.
Ich begann meine berufliche Laufbahn im Jahr 1967 als junger Forscher am Institut Pasteur, und zwar im Zellgenetik-Labor von François Jakob, der erst kurz zuvor den Medizin-Nobelpreis verliehen bekommen hatte. Dort arbeitete ich mit den großen Namen der Molekularbiologie zusammen – unter anderem mit Jacques Monod und André Lwoff, die jeden Tag am Gemeinschaftstisch in einer Ecke der Bibliothek gemeinsam ihr Mittagessen zu sich nahmen, und vielen anderen Wissenschaftlern aus aller Welt. François Jakob betreute nur zwei Doktoranden. Er hatte einem gemeinsamen Freund anvertraut, mich habe er nicht nur aufgrund meines Universitätsabschlusses angenommen, sondern auch, weil er gehört habe, dass ich ein Cembalo bauen wolle: ein Traum, den ich letztlich nie verwirklicht habe, der mir aber zumindest einen Platz in einem der begehrtesten Labors eingebracht hat.
Meine anderen Vorlieben waren