: Eowyn Ivey
: Das Schneemädchen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644308916
: 1
: CHF 7.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine ergreifende Geschichte über Liebe, Verlust und die Kraft der Hoffnung inmitten der rauen Wildnis Alaskas. In den 1920er Jahren beginnen Mabel und Jack, die keine Kinder bekommen konnten, ein neues Leben als Farmer an der Zivilisationsgrenze Alaskas. Doch der Schmerz der Kinderlosigkeit und der harte Überlebenskampf in der erbarmungslosen Natur schaffen eine scheinbar unüberbrückbare Distanz zwischen den beiden, die sich innig lieben. Als der erste Schnee fällt, überkommt Mabel eine fast kindliche Leichtigkeit. Nach einer spontanen Schneeballschlacht mit Jack bauen sie zusammen ein Kind aus Schnee vor ihrer Hütte. Am nächsten Tag entdecken sie ein feenhaftes blondes Mädchen in Begleitung eines Fuchses, das sie zwischen den Bäumen des Waldes beobachtet. Woher kommt dieses geheimnisvolle Kind? Wie kann es allein in der Wildnis überleben? Und was hat es mit den kleinen Fußspuren auf sich, die von ihrem Blockhaus wegführen? Das Schneemädchen von Eowyn Ivey ist ein zutiefst berührender Roman über die Kraft der Liebe und die Sehnsucht nach Erfüllung. Eine märchenhafte Geschichte, eingebettet in die atemberaubende Landschaft Alaskas, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann zieht.

Eowyn Ivey wuchs in Alaska auf, wo sie noch heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern lebt. Sie studierte Journalismus und kreatives Schreiben und arbeitete zehn Jahre lang als preisgekrönte Redakteurin und Buchhändlerin. Ihr Debüt 'Das Schneemädchen' war international ein großer Erfolg und wurde für den Pulitzer Preis nominiert. 'Das Leuchten am Rand der Welt' ist ihr zweiter Roman.

Kapitel 1


Wolverine River, Alaska,1920

 

Mabel hatte gewusst, es würde still sein. Darum war es ihr schließlich gegangen. Keine glucksenden oder plärrenden Säuglinge. Keine lärmenden Nachbarskinder draußen auf dem Weg. Kein Füßchengetrappel auf den von Generationen ausgetretenen Holzstufen, kein Spielzeugklackern auf dem Küchenfußboden. Alle diese Geräusche, die an Mabels Versagen und Bedauern erinnerten, sollten zurückbleiben, und an ihre Stelle sollte Stille treten.

Sie hatte sich die Stille in der Wildnis Alaskas friedlich vorgestellt wie nächtliches Schneegeriesel, die Luft lautlos, aber voller Verheißung, doch so war sie nicht. Vielmehr raspelten beim Fegen die Besenborsten auf dem Dielenboden, als würde eine scharfzahnige Spitzmaus an Mabels Herzen knabbern. Wenn sie das Geschirr spülte, klapperten Teller und Schüsseln, als wollten sie zerbrechen. Das einzige nicht von ihr selbst verursachte Geräusch war ein jähes «Krok-kroook», das von draußen kam. Mabel wrang den Spüllappen aus und blickte gerade rechtzeitig aus dem Küchenfenster, um einen Raben von einer kahlen Birke zur anderen flattern zu sehen. Keine Kinder, die einander durch das Herbstlaub jagten und beim Namen riefen. Nicht einmal ein einzelnes Kind auf einer Schaukel.

Eines hatte es einmal gegeben. Ein winziges Ding, tot geboren und stumm. Das war zehn Jahre her, aber noch in diesem Moment ertappte sie sich dabei, wie sie die Geburt heraufbeschwor, die Hand nach Jack ausstreckte, um ihn aufzuhalten, zu berühren. Sie hätte es tun sollen. Sie hätte den Kopf des Babys in ihre Hand betten und ihm ein paar Härchen abschneiden sollen, um sie in einem Medaillon um den Hals zu tragen. Sie hätte in das kleine Gesicht blicken und wissen sollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, und sie hätte es mit Jack zusammen in der Wintererde Pennsylvanias begraben sollen. Sie hätte das Grab kennzeichnen, hätte sich diese Trauer gestatten sollen.

Es war immerhin ein Kind gewesen, wenn es auch mehr einem Wechselbalg aus dem Märchen glich. Verschrumpeltes Gesichtchen, winziger Kiefer, spitz zulaufende Ohren; so viel hatte sie gesehen und beweint, denn sie wusste, sie hätte es trotz allem lieben können.

Mabel stand schon zu lange am Fenster. Der Rabe war längst über die Baumwipfel davongeflogen. Die Sonne war hinter einen Berg gesunken, das Licht fahl geworden. Die Äste waren kahl, das Gras gelblich grau. Keine einzige Schneeflocke. Ihr war, als sei alles Schöne, Glitzernde zu Staub zermahlen und aus der Welt gefegt worden.

Der November war angebrochen, und das machte ihr Angst, weil sie wusste, was er mit sich brachte – Kälte, die über dem Tal lag wie ein nahender Tod, Gletscherwind zwischen den Ritzen des Blockhauses. Eine so allumfassende Dunkelheit, dass auch die Tage düster blieben.

Mabel war in den vergangenen Winter blindlings hineingestolpert, ohne zu wissen, was von diesem neuen, rauen Land zu erwarten war. Jetzt wusste sie es: Von Dezember an würde die Sonne kurz vor Mittag aufgehen, wenige Stunden lang im Zwielicht an den Berggipfeln entlangziehen und wieder sinken. Mabel würde in einem Sessel neben dem Holzofen immerzu einnicken und wieder aus dem Schlaf hochschrecken. Sie würde zu keinem ihrer Lieblingsbücher greifen; die Seiten wären ohne Leben. Sie würde nicht zeichnen; was gäbe es schon in ihrem Skizzenbuch einzufangen? Einen trüben Himmel, schattige Winkel. Es würde ihr von Morgen zu Morgen schwerer fallen, das warme Bett zu verlassen. Schlafwandlerisch würde sie umherstolpern, Mahlzeiten zusammenkratzen und rings um das Blockhaus nasse Wäsche aufhängen. Jack würde sich abmühen, um die Tiere am Leben zu erhalten. Die Tage würden ineinanderfließen, der Würgegriff des Winters würde enger werden.

Ihr Leben lang hatte sie an etwas