Lenobia
Sie stürzte aus dem Zimmer und rannte die kurze Treppe von ihrer Wohnung zu den Ställen im Erdgeschoss hinunter. Unter der Tür am Ende der Treppe kroch Rauch hindurch. Sie unterdrückte ihre Panik und presste die Hände gegen das Holz. Es fühlte sich nicht warm an, also riss sie die Tür auf und erfasste mit einem Blick die Situation im Stall. Am heftigsten brannte das Feuer am anderen Ende, wo Einstreu und Futter lagerten. Gleich daneben lagen sowohl Mujajis Box als auch die große Abfohlbox, in der Travis mit seiner Percheronstute Bonnie Quartier bezogen hatte.
»Travis!«, brüllte sie, schirmte ihr Gesicht mit dem erhobenen Arm vor der wachsenden Hitze ab, rannte in den Gang und begann, Boxen zu entriegeln und die Pferde darin freizulassen.Raus, Persephone, raus!, vermittelte sie der Rotschimmelstute, die, vor Furcht erstarrt, ihre Box nicht verlassen wollte. Als das Tier an ihr vorbei zum Ausgang trabte, schrie sie ein zweites Mal: »Travis! Wo sind Sie?«
»Ich lass die Viecher hier hinten frei!«, rief er aus der Ecke, wo der dichteste Rauch waberte. Im selben Moment donnerte von dort eine junge Graue auf sie zu und hätte sie fast umgetrampelt.
»Ruhig, Anjo! Ruhig«, redete Lenobia auf das verängstigte Tier ein und trieb es zum Ausgang.
»An den anderen Ausgang komm ich nicht ran, da brennt’s schon lichterloh. Ich –« Travis brach ab, als mit einem mörderischen Klirren die Fenster der Sattelkammer zerbarsten und es überall heiße Glasscherben regnete.
»Hauen Sie da ab, Travis, und rufen Sie die911 an!«, schrie Lenobia, während sie einen Wallach aus der nächsten Box zog. Sie war wütend darüber, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte, die Feuerwehr zu rufen, ehe sie aus der Wohnung gestürzt war.
»Hab ich gerade gemacht!«, rief da eine unbekannte Stimme. Lenobia spähte in den Rauch und die Flammen. Nur einen Moment später tauchte dort eine Jungvampyrin auf, die eine völlig panische Fuchsstute am Halfter hielt.
»Alles ist gut, Diva«, beruhigte Lenobia diese automatisch und nahm dem Mädchen den Führstrick ab. Bei ihrer Berührung wurde das Pferd ruhiger. Lenobia hakte den Strick aus und trieb die Stute dem Ausgang zu, den anderen Pferden hinterher. Dann zog sie das Mädchen mit sich, weg von der steigenden Hitze, und fragte: »Wie viele Pferde sind noch –«
Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sah, dass die Mondsichel auf der Stirn des Mädchens rot war.
»Ich glaub’, nicht mehr viele«, keuchte die rote Jungvampyrin und wischte sich mit zitternder Hand Schweiß und Ruß aus dem Gesicht. »Ich – ich hab Diva rausgeholt, weil ich sie immer so gern mochte. Ich dachte, sie würde mich wiedererkennen. Aber sie hatte nur Panik. Wahnsinnspanik.«
Lenobia fiel der Name des Mädchens ein – Nicole. Bevor sie gestorben und ›entstorben‹ war und sich Dallas’ Abtrünnigen angeschlossen hatte, hatte sie Geschick im Umgang mit Pferden und ein natürliches Talent fürs Reiten gezeigt. Nun, jetzt blieb keine Zeit für Misstrauen. Jetzt mussten die Pferde gerettet werden – und Travis. »Gut gemacht, Nicole. Traust du dich noch mal da rein?«
Nicole nickte heftig. »Ich will nicht, dass sie verbrennen. Sagen Sie mir, was ich machen soll.«
Lenobia legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du musst nur die Boxen aufmachen. Ich führe die Pferde dann raus.«
Sie nickte. »Okay. Kein Problem.« Sie klang atemlos und verängstigt, aber ohne zu zögern folgte sie Lenobia, als diese zurück in die tobende Hitze