[9] Anprobieren eines Vaters; zugleich etwas
über Kindheit
Was zu erzählen ist von meinem Namensvetter Ferdinand Hackl, ist eine Kindheitsgeschichte und fängt an im September sechzehn oder siebzehn, am letzten heißen Tag des Jahres, im Bahnhof von Mährisch-Schönberg. Dort wird ein siebzehnjähriges Mädchen ins Abteil geschubst, von seiner Mutter, eventuell auch den Geschwistern, nur der Vater ist vermutlich nicht dabei, weil er in der Weberei schuftet oder weil er dem Bauern beim Rübengraben aushilft oder einfach nur, weil ihm gar nicht in den Sinn kommt, seiner Tochter Lebewohl zu sagen. Das Mädchen, es heißt Anna Pospischil, fährt zum ersten Mal mit dem Zug, und gleich so weit!
Aber eigentlich beginnt die Geschichte schon eine Woche früher in Frankstadt, ein paar Kilometer abseits, im Fleischerladen, den Annas Mutter betritt. Der Sohn des Fleischerehepaares, der in Wien studiert, Jus vielleicht oder Medizin, hat die Ferien zu Hause verbracht, sich anstaunen lassen oder im Geschäft mit angepackt, jetzt hockt er im Wirtshaus und liest Frontberichte. Die Anna sucht sich einen Posten in Wien, sagt die Mutter, und ob sie vielleicht mit dem jungen Herrn mitfahren darf, weil sie sich nicht auskennt, und umsteigen muß sie auch. Aber ja, sagt die Frau des Fleischers, wenn’s weiter nichts ist.
Dann sitzt der Herr Studiosus also dem Mädchen[10] gegenüber. Draußen fliegen die Äcker vorbei, die Telegraphendrähte ziehen Wellen, neben Bahnwärterhäuschen winken Kinder. Drinnen dem Fleischersohn wird zunehmend unbehaglich, denn er geniert sich wegen des verschreckten oder aufdringlich neugierigen Mädchens, seiner ärmlichen Kleidung, des lächerlichen Strohhuts, den es auch im Sitzen nicht abnimmt. Eine richtige Landpomeranze, mit der will er von seinen Freunden nicht gesehen werden. Also steht er auf, hebt seinen Koffer aus dem Gepäcknetz und übersiedelt in das Nebenabteil. Du bleib da! sagt er zu Anna.
Im Nordbahnhof wartet schon die Tante. Eine weitschichtige Verwandte der Familie ist Pflegerin in der Anstalt für Geisteskranke am Steinhof. Mit der hatte die Tante gesprochen, ob sie das Mädchen nicht unterbringen könne. Es sei arbeitswillig und gesund. Ich werde schauen, was sich machen läßt, hatte die Frau gesagt. Jetzt, wo es dasteht, in diesem unmöglichen Aufzug, erschrickt die Pflegerin. Dreh dich einmal um, sagt sie, mach ein paar Schritte. Sie schüttelt den Kopf, aber so, daß es das Mädchen gerade noch sieht. Na ja, Hilfsschwester kannst du unter Umständen werden. Nur sag keinem, daß du mit mir verwandt bist.
Anna nickt, lächelt, auch wenn ihr zum Weinen ist. Sie kommt in den Pavillon mit den nervenkranken Soldaten, den Kopfschüßlern und denen, die im Schützengraben verschüttet worden sind. Im Nachtdienst ist sie allein in der Abteilung. Manchmal schläft Anna ein, vor Erschöpfung oder Heimweh, dann weckt sie der gellende Schrei ein