: Joseph Roth
: Der Leviathan und andere Meistererzählungen
: Diogenes
: 9783257602814
: 1
: CHF 13.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Joseph Roth erzählt von Liebessehnsucht und schiefer Bahn, von einem einfachen Stationsvorsteher, der sich in eine russische Adlige verliebt, von einem kaisertreuen Grafen und einer sich aufopfernden Mutter, von einem Korallenhändler mit Sehnsucht nach dem Meer und von der Glückssträhne eines Clochards in Paris. Wie der Titel einer seiner Novellen ist Joseph Roths Erzählkunst selbst ein Triumph der Schönheit.

Joseph Roth, geboren 1894 als Sohn jüdischer Eltern in Galizien. Nach Studienjahren in Wien und Lemberg, dem heutigen Lwiw, war er im Ersten Weltkrieg Soldat. Danach lebte er, zunächst als Journalist und später auch als Schriftsteller, in Wien und Berlin. 1933 emigrierte Joseph Roth nach Paris, wo er 1939, verarmt und alkoholkrank, starb.

[41] Triumph der Schönheit

I

Ich halte viel von der Menschenkenntnis meines alten Freundes Doktor Skowronnek. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ist er Arzt in einem berühmten Kurort für Frauen, wo die wundertätigen Quellen Gebärmutterleiden, Unfruchtbarkeit und Hysterie heilen sollen. Mein Freund, der Doktor Skowronnek, versichert es jedenfalls. Immerhin spricht er fast mit der gleichen Überzeugung von der wunderbaren, wenn auch leichter zu erklärenden Wirkung, die eine erhebliche Anzahl junger, kräftiger und liebesdurstiger Männer auf die trostbedürftigen Patientinnen des Kurorts in jeder Saison auszuüben pflegen. Pünktlich wie gewisse Zugvögel treffen nämlich bei »Eröffnung der Saison« die jungen Männer in jenem Kurort ein und wetteifern mit der Heilkraft der berühmten Quellen.

Mein Freund, Doktor Skowronnek, hat jedenfalls innerhalb eines Vierteljahrhunderts Gelegenheit gehabt, die körperlichen und seelischen Krankheiten der Frauen kennenzulernen. Nehmen wir an, er hätte nur dreißig Damen in der Saison zu behandeln, so hätte er, nach fünfundzwanzig Jahren, nicht weniger als siebenhundertundfünfzig Frauen gründlich kennengelernt. Ich glaube also, recht zu[42] haben, wenn ich viel von der Weltkenntnis meines Freundes halte.

Infolgedessen pflege ich auch alle Ehemänner, die mir von Krankheiten (echten oder eingebildeten) ihrer Frauen erzählen, zu Doktor Skowronnek zu schicken. Er behandelt die Männer, die an ihren Frauen gewöhnlich mehr zu leiden haben als die Frauen an ihren Krankheiten, ebenfalls als Patienten – und dies mit Recht. Ja, ich betrachte meinen Freund, den Doktor, eher als einen Ehemänner-Arzt denn als einen Frauenarzt – obwohl er selbst nichts davon wissen will und behauptet, es schade seinem Ruf. Ich aber kenne ihn. Und ich weiß, dass er hinter einer Art beichtväterlicher Güte, mit der er die kranken Damen auf Herz und Nieren prüft, die Sorge um die den Patientinnen hörigen Herren verbirgt. Wer so viel Frauen untersucht hat, muss schließlich eine leidenschaftliche Solidarität mit den Männern empfinden.

So geschah es denn eines Tages, dass ich einem meiner Bekannten, dem Ingenieur M., den Rat gab, den Doktor Skowronnek aufzusuchen; allein zuerst, ohne die kranke Frau, von der mir der Ingenieur ein Langes und Breites erzählt hatte. Der Ingenieur war ein junger Mann, erst seit zwei Jahren verheiratet, ohne Kinder. Nach einem Jahr glücklicher Ehe – oder was man so nennt – hatte die Frau angefangen, über Schmerzen im Kopf, im Rücken, im Bauch, im Hals, in der Nase, in den Augen, in den Füßen zu klagen. Man soll nicht verallgemeinern: Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Ingenieure – und besonders Brückenbau-Ingenieure, solch einer war mein Bekannter – von der Konstitution der Frauen keine Ahnung haben. Es mag Ausnahmen[43] geben. Der B