: Hans Sahl
: Der Mann, der sich selbst besuchte Die Erzählungen
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641099893
: 1
: CHF 16.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 416
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sämtliche Erzählungen und Glossen - mit zahlreichen bisher unveröffentlichten Texten
In diesem Band werden sämtliche Erzählungen sowie die schon zu ihrer Zeit hoch gerühmten Glossen Hans Sahls zum ersten Mal vollständig zugänglich gemacht. Damit ist endlich das erzählerische Schaffen des Autors sowie seine überragende Bedeutung in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts neu zu entdecken.

Hans Sahl wurde 1902 als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden geboren, schrieb ab Mitte der 1920er Jahre Filmkritiken in berühmten Blättern und begann in dieser Zeit auch seine ersten Erzählungen zu verfassen. 1933 musste er fliehen - erst nach Frankreich, dann in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Kulturkorrespondent erst der Zürcher Zeitung, dann der Süddeutschen Zeitung in New York. Er übersetzte Thornton Wilder, Tennessee Williams und Arthur Miller. Seit 1989 lebte der Autor in Tübingen, wo er 1993 starb. Bei Luchterhand sind zuletzt die ersten drei Bände seiner Werkausgabe ('Memoiren eines Moralisten/ Das Exil im Exil', 'Die Gedichte' und der Roman 'Die Wenigen und die Vielen') erschienen.

Die blaue Kastanie

Sie war einmal grün gewesen, aber jetzt war sie blau, wie die Brillen, die sie trugen und die sie zuweilen abnahmen, um zu sehen, ob sie noch blau wäre. Man hatte sie in den Garten gesetzt, und nun hockten sie im Gras unter der blauen Kastanie, rückten ihre Brillen zurecht oder zupften an ihren kunstvoll angelegten Verbänden, die ein Auge freiließen oder auch keins, tasteten mit den Händen den Boden ab und rochen an Blumen, die sie sich heimlich abgerupft hatten.

Draußen, hinter dem Gartenzaun, wo die hohen Sonnenblumen wuchsen, fuhren Bahnen, gingen Menschen, saßen hinter Biergläsern und rauchten. Sie trugen keine weißen Verbände, konnten ins Kino gehen oder in den Wald, konnten schreiben, lesen, trinken, niemand sagte ihnen etwas. Sie brauchten keine salzlose Kost zu essen, sie brauchten nicht zu beten, bevor das Licht ausgelöscht wurde, und wenn sie es doch taten, so beteten sie nicht, um gesund zu werden, oder weil man ihnen sagte, dass sie beten müssten. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Sie hatten zwei Augen im Kopf, und das genügte, ein freier Mensch zu sein und das Leben schön zu finden.

Ein Mann, der rittlings auf einem Liegestuhl saß, halb nackt und mit zottiger Brust, lachte plötzlich laut auf. Er trug in jedem Ohr einen Messingring, sein rechtes Auge war durch einen Verband verdeckt, der wie eine bandagierte Kugel aus dem Gesicht herausstand.

Wie er so dasaß, breitbeinig, ein mächtiger Amboss, der auf den nächsten Hammerschlag wartete, glich er einem verwundeten Landsknecht aus den Tagen der Schlacht von Morgarten. Die weißen Verbände schauten auf. Sie wussten, was das Lachen bedeutete. Es versprach Abwechslung und Zerstreuung, es bereitete auf das vor, was nun kommen sollte, wie das Stimmen der Posaune vor dem Konzert.

»Erzähle«, sagten die weißen Verbände und schoben ihre Köpfe in die Richtung des Schalles.

»Es war mittags gegen halb zwölf«, sagte der Schmied.»Ich war gerade dabei, einen alten Kupferkessel zu reinigen, da geschah es.« Er machte eine Pause und sah mit seinem gesunden Auge den Geometer an, als erwartete er von ihm die Fortsetzung der Geschichte.

»Jetzt k-kommt das mit der S-Salzsäure«, sagte der Geometer, der missmutig an einem kalten Zigarrenstummel kaute. Er hatte seit zwei Monaten nicht mehr geraucht und trug den Zigarrenstummel wie ein Amulett in seiner Westentasche.

»Es war nämlich sehr heiß«, sagte der Schmied.»Dreißig Grad im Schatten. Plötzlich gab es einen Knall. Etwas Scharfes spritzte mir ins Gesicht.›Jakob!‹, rief meine Frau von nebenan.›Ist dir was zugestoßen?‹–›Ja‹, brüllte ich.›Ruf sofort den Arzt. Ich kann nichts mehr sehen.‹ Zehn Minuten später lag ich hier auf dem Tisch. Alles brannte. Der Professor brannte. Die Schwestern brannten.›Jakob!‹, hörte ich meine Frau rufen.›Komm doch wieder zu dir! Das eine ist gerettet!‹–›Welches?‹, fragte ich.›Das Linke‹, sagte sie. Dann trug man mich fort.›Frieda‹, sagte ich später zu ihr,›Frieda, ich habe immer Glück gehabt im Leben. Eins ist uns geblieben!‹–›Ja‹, sagte meine Frau.›Wir werden noch schöne Tage haben, Jakob.‹ Dann ging sie. Aber das andere ist nun hin, tot, mausetot… soll ich es euch zeigen?«

Er machte Anstalten, den Verband zu lockern.»Schon g-gut«, sagte der Geometer und sah mit seinen traurigen Trinkeraugen im Kreis umher. Vom Fenster kam die Stimme der Oberschwester:»Assa!«

Die Tage in einer Augenklinik gleichen den Nächten. Wären nicht die kleinen und großen Sensationen der Nahrungsaufnahme und–abgabe, der täglichen Waschungen und Verrichtungen, derärztlichen Untersuchungen, des Tropfengebens und Verbindens, man würde den Unterschied zwischen Hell und Dunkel, der unserer Zeiteinteilung zugrunde liegt, kaum bemerken. Langsam, unvorstellbar langsam zieht ein Tag vorbei, wenn die einzige Abwechslung darin besteht, dass eine der Schwestern sich bereit erklärt, etwas aus einem Buche vorzulesen. Dann wird für eine halbe Stunde das Schweigen durch eine unsichere, ein wenig zu hohe Stimme unterbrochen, die sich mit schlecht verhehlter Verlegenheit gegen die sprachliche Genauigkeit eines Mörike oder Stifter zu behaupten versucht.

Manchmal kam Herr Guggenbühl aus der ersten Klasse herüber und erstattete Mitteilungüber den Stand seines Gerstenkorns. Herr Guggenbühl war Reisender einer Zahnpastafirma und hatte ein eigenes, großes Zimmer, in dem er zu jeder Tageszeit Besuche empfangen durfte, beispielsweise den seiner Braut, einer stark nach Parfüm riechenden Schauspielerin, deren Umrissen sie durch ihre Gazeverbände hindurch begehrlich nachschauten. Niemals in seinem Leben, so versicherte Herr Guggenbühl, habe er»etwas an den Augen« gehabt, und war es auch nur ein Gerstenkorn, das den von Natur aus Schreckhaften aus der Bahn geworfen hatte, so genügte es, ihn von den silbernen Platten, auf denen er sein Essen serviert bekam, aufzuscheuchen und zu den irdenen Töpfen der dritten Klasse zu treiben.»Glauben Sie, dass ich blind werde?«, pflegte Herr Guggenbühl zu fragen, indem er sich mit seinem blauseidenen Taschentuch die Stirne betupfte. Die Krankheit ließ ihn