1. Kapitel
Baltimore, Maryland,
Dienstag,5. April,6.00 Uhr
Paige Holden setzte ihren Pick-up verärgert in die letzte freie Parklücke auf dem Gelände. War ja klar, dass diese nicht weiter von ihrer Wohnung entfernt hätte liegen können. War ja klar, dass es regnete.
Wenn du zu Hause wärest, hättest du jetzt gemütlich in deine Garage fahren und im Trockenen aussteigen können. Du hättest Minneapolis niemals verlassen sollen. Was hast du dir bloß dabei gedacht?
Ihre Spottstimme. Sie hasste ihre Spottstimme. Sie schien sich immer dann in ihrem Bewusstsein einzunisten, wenn sie ihr am wenigsten entgegenzusetzen hatte. Zum Beispiel, wenn sie vollkommen erschöpft war. Wie jetzt.
»Zieh bloß Leine«, murrte sie, und der Rottweiler auf dem Beifahrersitz stieß ein tiefes Grollen aus, das Paige als Zustimmung wertete. »Wenn wir zu Hause geblieben wären, dann wäre das kleine Kind jetzt noch immer bei seiner Schlampe von Mutter.« Sie presste die Kiefer zusammen, als die nur wenige Stunden alte Erinnerung in ihr aufstieg. Den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen würde sie wohl niemals vergessen. Wollte es auch gar nicht.
Heute Nacht hatte sie etwas bewirkt. Sie, Paige Holden, hatte dazu beigetragen, dass ein Mensch vor einem schlimmen Schicksal bewahrt werden konnte. Und genau das musste sie sich vor Augen führen, wenn sich wieder einmal ihre Spottstimme einmischte. Die Gesichter der Opfer, denen sie hatte helfen können, waren die Erinnerungen, die sie heraufbeschwören musste, wenn sie aus ihren Alpträumen hochschreckte. Wenn das Schuldgefühl in ihrer Kehle aufstieg und sie zu ersticken drohte.
Zachary Davis würde sein Leben leben können. Zumindest auf lange Sicht.Weil ich heute Nacht da war.
»Das haben wir gut gemacht, Peabody«, sagte sie mit fester Stimme. »Du und ich, wir beide.«
Der Hund scharrte mit der Vorderpfote an der Tür. Er war stundenlang mit ihr im Wagen eingepfercht gewesen und hatte geduldig gewartet. Seine Pflicht getan.Und auf mich aufgepasst.
In seiner Anwesenheit fühlte sie sich sicherer, auch wenn es sie ärgerte, dass sie immer noch seinen Schutz brauchte, um nachts ruhig schlafen zu können, dass sie trotzdem noch zusammenfuhr, sobald sie in unmittelbarer Umgebung eine plötzliche Bewegung wahrnahm. Aber so war es nun einmal, und nur langsam lernte sie, damit umzugehen. Ihre Freunde zu Hause hatten sie zur Geduld ermahnt: Es sei erst neun Monate her, und sich von einem Überfall zu erholen konnte Jahre dauern.
Jahre! Paige dachte nicht daran, so lange zu warten. Mit einer unwirschen Bewegung zog sie sich die Kapuze über den Kopf und befestigte die Leine an Peabodys Halsband. Sie würde ihn Gassi führen, sich einen Kaffee besorgen und anschließend schnell unter die Dusche springen, bevor sie zu ihrem nächsten Termin aufbrach.
Schlafen konnte sie später. Wenn sie müde genug war, träumte sie nicht. Und ein paar Stunden traumloser Schlaf klangen nahezu himmlisch.
Peabody trabte schnurstracks auf den Laternenmast zu, an den alle Hunde des Viertels am liebsten pinkelten. Während er noch schnupperte, klingelte ihr Telefon. Sie jonglierte einhändig mit Schirm und Leine und blickte aufs Display, bevor sie sich das Handy zwischen Ohr und Schulter klemmte. Es war Clay Maynard, seit drei Monaten ihr Partner und, bis sie selbst eine Ermittlerlizenz in den Händen hatte, ihr Chef und selbsternannter Beschützer.
»Wo bist du?«, bellte der Privatdetektiv in den Hörer. Er hielt sich nur selten mit Grüßen auf, gab sich meistens barsch, manchmal sogar grob, aber er war ein verdammt kluger Mann. Der einen schrecklichen Verlust erlitten hatte und immer noch trauerte. Und weil Paige seine Trauer nur allzu gut nachempfinden konnte, übte sie Nachsicht.
Unter der ruppigen Oberfläche verbarg sich ein guter Mensch, der ihr in den drei Monaten, die sie nun schon in Baltimore wohnte, so etwas wie ein großer Bruder geworden war. Und da sie in den vergangenen fünfzehn Jahren in ihrem ehemaligen Karate-dojo mit unzähligen selbsternannten »großen Brüdern« trainiert hatte, wusste sie inzwischen ganz genau, wie man mit dem lästigen, doch unweigerlich auftretenden männlichen Beschützerinstinkt am besten umging: cool bleiben, mit Humor kontern.
»Ich stehe unter einer Laterne und sehe Peabody beim Pinkeln zu. Soll ich dir ein Foto davon schicken?«, fragte sie trocken. »Peabody nimmt es mit seiner Privatsphäre nicht so genau, wenn es dich also beruhigen würde …«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann glau