Inhaltsverzeichnis9. März 1945
Läuse für die Leber
Unentschlossen blickte Katty sich in ihrem Zimmer um. Was sollte sie einpacken? Alles, was sie besaß, oder nur ein paar Sachen für drei bis vier Tage? Der linke untere Niederrhein war erobert worden. Gestern hatten sie Xanten und Wardt eingenommen. Jetzt sind sie also hier, dachte Katty. Und nun?
Theodor hatten die Alliierten den Tod gebracht. Vor zwei Tagen hatten sie die Brücke von Remagen erobert, das war am Mittwoch gewesen. Noch in derselben Nacht mussten sie Unkel überrannt haben. Und Theodors Garnison hatte wahrscheinlich nichts entgegensetzen können. Theodor hatte in den letzten Wochen Angst gehabt. Vielleicht hatte er sein Ende gespürt. Er hatte Heinrich einen Brief geschrieben, und nachdem der ihn gelesen hatte, hatte er Katty in den Arm genommen und auf die Stirn geküsst. Anders als sonst hatte er ihr den Brief nicht gezeigt, und sie hatte nicht nach dem Inhalt gefragt. Sie nahm sich vor, das nachzuholen. Sie machte sich Sorgen um ihre Geschwister. Josef wohnte mit seiner Familie nicht weit entfernt im Nachbardorf Mörmter. Er packte sicher auch gerade die Koffer. Martha wohnte weiter nördlich in Rees, ebenfalls direkt am Rhein. Sie hatten sich vor vier Wochen zuletzt gesehen, kurz darauf war der Krieg in seiner ganzen Härte am Niederrhein angekommen. In Xanten und Wardt hatte es seit Mitte Februar heftige Gefechte gegeben. Genau zu Karneval hatten die Bomben der Kanadier Xanten fast dem Erdboden gleichgemacht. Ein Turm des Viktor-Doms war dabei eingestürzt. Gott sei Dank hatte gerade keine Messe stattgefunden. Xanten hatte sich inzwischen halbiert, vermutete Katty. Wegen der Nähe zur Weseler Rheinbrücke war der untere Niederrhein seit Wochen ein wichtiges Ziel für die Alliierten. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie noch lebten, denn sogar bei ihnen, im kleinen Wardt, waren dreizehn Menschen gestorben. Nach allem, was rheinaufwärts schon passiert war, gab es am Niederrhein viele Gerüchte. Es hieß, die Wehrmacht wolle die Eisenbahnbrücke Wesel sprengen. Was sollte das noch bringen, fragte Katty sich, die Alliierten würden auch ohne die Brücken vorankommen. Ob das jetzt noch ein paar Tage länger dauerte oder nicht, was änderte das schon.
Adele wohnte auf der anderen Rheinseite in Duisburg. Sie war dort Rektorin an einem Mädchengymnasium. Eigentlich hätte sie am Wochenende zu Katty auf den Tackenhof kommen sollen, um mit ihr zu feiern, denn Katty war am Montag fünfunddreißig geworden. Aber an Feiern war nicht mehr zu denken.
Katty warf lustlos drei Wollröcke in ihren Koffer. Sollte sie wirklich den Hof verlassen, nur weil die Alliierten es anordneten? Die Bevölkerung wollen sie schützen, maulte sie, pah, wahrscheinlich wollen sie sich nur die Höfe unter den Nagel reißen. Uns schicken sie nach Bedburg-Hau, und dann können wir sehen, wo wir bleiben. Sie wusste natürlich, dass der Krieg längst verloren war, aber es machte ihr Angst, dass Ausländer plötzlich das Sagen hatten. Sie verstand nur wenige Brocken Englisch, und die vielen Bombennächte im Keller hatten ihr zugesetzt. Dieses durchdringende Zischen und kurz darauf das leichte Wackeln der Erde waren unerträglich gewesen. Manchmal hatte sie gedacht, das sei ihr Ende. Es wäre wenigstens ein schneller Tod gewesen, mehr, als anderen vergönnt war.
Sie hatte ihre Mutter sterben sehen. Ein halbes Jahr lang hatte sie sich gequält, bevor sie es schaffte, das Leben loszulassen. Die Ärzte hatten ihr nicht helfen können, von Anfang an nicht. Sie war plötzlich abgemagert, Schwindsucht sagten die Leute. Der Dorfarzt schaute ihr in die Augen und stellte fest, dass sie gelb waren. Die Leber sei krank, sagte er, sie müsse auf Eier und Käse verzichten; Alkohol sei ebenfalls schädlich. Die ganze Familie wusste, dass es daran nicht liegen konnte, denn die Mutter hatte nie Alkohol getrunken, und seit Monaten aß sie fast nur Brot, von allem anderen wurde ihr übel. Als ihr Zustand sich nach ein paar Wochen nicht besserte, riet ihr der Arzt, sie solle lebende Schafsläuse essen. Das Sekret, das die Insekten beim Sterben absonderten, könne die Leber heilen. Kattys Familie war nicht leichtg