: Thomas Hauschild
: Weihnachtsmann Die wahre Geschichte
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104009476
: 1
: CHF 10.00
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: Philosophie: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Woher kommt der Weinachtsmann? Eine wissenschaftliche Detektivgeschichte »Weihnachtmann«, »Nikolaus«, »Santa Claus« - um diese harmlosen Figuren gibt es oft Streit. Die einen glauben zu wissen, welcher der »Richtige« ist, andere kritisieren den Weihnachtskonsum als unchristlich. Alle reden vom Weihnachtsmann, aber nur eine kleine Minderheit glaubt an ihn - die Kinder. Schaut man jedoch die Rituale und Bilder der euroamerikanischen Weihnacht von außen an, überrascht die spektakuläre, für jeden schnell nachprüfbare Ähnlichkeit des Weihnachtsmannes zu verwandten Figuren in Asien wie der chinesische »Gott des langen Lebens« oder der mongolische »Weiße Alte«. Der Religionsforscher Thomas Hauschild ist ihnen allen begegnet, hat sie gesammelt, vermessen und verglichen. Und er bringt uns bei, diese winterlichen ewigjungen Eremiten als Leitbilder eines weltweiten Klima- und Familienkultes der Zukunft zu begreifen.

Thomas Hauschild, geb. 1955, studierte Ethnologie, Volkskunde und Religionswissenschaft in Hamburg. 1982-2001 forschte Thomas Hauschild für sein Buch über ?Magie und Macht in Italien? (2002). Er arbeitete an zahlreichen Universitäten des In- und Auslandes sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Heute ist er Professor für Ethnologie an der Universität Halle. Nach frühen Erfahrungen mit Nikolaus und Knecht Ruprecht hat er alles Erdenkliche dafür getan, seine Kinder Simon und Carmen so lange wie möglich von der Existenz des Weihnachtsmannes zu überzeugen. Zuletzt erschien von ihm ?Ritual und Gewalt? (2008).

Weihnachtsmann ist Kult


Es ist Hochsommer. Ich hole Britta von einem Fortbildungsseminar ab, das an einem brandenburgischen See stattgefunden hat. Wir machen eine Wanderung nach Himmelpfort. Es soll dort religiöse Geheimnisse geben! Wir erwandern uns ein großes, an der Schleuse zwischen Haussee und Stolpsee gelegenes Gelände. Schon von weitem erkennt man dort die Ruinen der verfallenen Klostergebäude. Coeli porta, Himmelpfort,1299 vom brandenburgischen Herrschergeschlecht der Askanier zur Kolonisierung der Landschaft gegründet, besaß zehn Mühlen und39 Seen. Die Techniker und Arbeiter des Zisterzienser-Ordens siedelten immer gerne an Orten, wo sie die Bewässerung der umliegenden Ebenen kontrollieren konnten. Wasser, gut kontrolliertes Wasser, nicht zu viel und nicht zu wenig, war damals eines der kostbarsten Güter und ist es noch heute. Die genialen mönchischen Ackerbauern haben Sankt Nikolaus ganz besonders verehrt, den Heiligen des Wassers, der Seefahrer und der freien Wege. Ihre zentrale Schulungsstätte war13851582 das Kollegium zum Hl. Nikolaus in Wien.

Wir entern Himmelpfort, ermüdet von der Wanderung. Auch das Weihnachtspostamt mit seinen Informationsschildern kann uns nicht vom Weg zur nächsten Quelle von Flüssigkeit und Nahrung abbringen. Wir landen im Gemeinschaftshaus des kleinen, stark auf Tourismus angewiesenen Luftkurortes. Vor lauter Hunger entgeht uns erst, was wir dort alles sehen können, ein Weihnachtszimmer mit Schlitten, maskierten Santa-Puppen und geschmückten Kunsttannen, und eine Tafel, aus der hervorgeht, dass sich die Zahl der Briefe, die im Weihnachtspostamt eingehen, zwischen den Jahren1985 und2008 sehr gesteigert hat: von drei auf zweihundertachtzigtausend!20 Mitarbeiterinnen beschäftigt die Post von Himmelpfort im Winter, um jedem Kind eine vorgestanzte Antwort unter seinem Namen zukommen zu lassen. In der Spätphase derDDR wurden das Weihnachtsfest und der damit verbundene Konsum auch offiziell geduldet. Die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen hatte man ohnehin nie gewagt. Himmelpfort war seit den1920er Jahren Luftkurort, und ab den1950er Jahren gab es dort zahlreiche Schulungsstätten gesellschaftlicher Organisationen derDDR, verbunden mit viel Fremdenverkehr. Manche Besucher werden sich damals gefragt haben, warum der Ort diesen seltsamen Namen trägt. Vielleicht hatten einige auch von den Weihnachtspostämtern gehört, die es schon seit Jahrzehnten im Westen gab. Die ersten Briefe kamen aus Sachsen und Berlin. Postfrau Kornelia „Konni“ Matzke brachte es anscheinend nicht über sich, sie als unzustellbar zurückzuschicken. So fing es an, und jedes Jahr kamen mehr Briefe.1989 wurde die „Weihnachtspost Himmelpfort“ in die Wendezeit hinübergerettet, ein im Jahre1991 ausgestrahlter Bericht im damals noch existierendenDFF-Fernsehen zeigte große Wirkung. Heute gehört Himmelpfort zu den acht großen Weihnachtspostämtern Deutschlands, man findet sie zum Beispiel in Himmelsthür in Niedersachsen, in Himmelstadt in Bayern und im nordrhein-westfälischen Engelskirchen. Die Leiterin des Gemeinschaftshauses von Himmelpfort ist eine sportlich gekleidete Frau um die fünfzig, blass, das Gesicht in strenge Falten gelegt. Als Britta und ich uns bei Kaffee und Broten erholt haben, fällt uns wieder ein, dass wir ja Ethnologen sind. Wir versuchen, die Gastgeberin auszufragen. Doch wir beißen auf Granit. „Stimmt es, dass hier sogar ein Schauspieler angestellt wurde, der im November und Dezember den Weihnachtsmann spielt?“ (Das hatten wir vom Nebentisch gehört) – „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich kann Ihnen nur eins sa