Kapitel 2
Von der Vielfalt der Zeiten
Versöhnte Verschiedenheit
Geht’s um Zeit, dann geht’s ums Leben. Wie wir die Zeit leben, so leben wir unser Leben. Wenn wir heute davon sprechen, »die Zeit rase«, dann leben wir heute schneller denn je. Je schneller wir jedoch leben, umso mehr rennen wir hinter der Zeit (sprich: hinter dem Leben) her. Und da wir dieses Spiel immer weiter, immer hektischer betreiben, drängt sich die Frage auf: Ticken wir eigentlich noch richtig? Und bevor wir noch ein wenig schneller werden, um eilig nach einer Antwort zu suchen, empfiehlt sich eine Besinnungspause, in der wir nachdenken, ob es uns nicht besser ginge, wenn wir das Tempo nicht immer noch mehr verschärfen, sondern das Zeitleben bunter, vielfältiger und abwechslungsreicher machen würden.
Denn es sind nicht alle Zeiten gleich. »Im Sommer«, so Walter Benjamins anschaulicher Kommentar zu dieser Trivialität, »fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen«. Doch nicht nur die Jahreszeiten sind verschieden, die Zeit ist es generell. Es gibt sie nur im Plural. Wir kennen die Schnelligkeit, die uns zu vielen Errungenschaften verholfen hat, wir kennen die nicht minder produktive Langsamkeit, die Aktivität, das Ruhen, die Veränderung, die Stabilität und viele andere Zeitqualitäten mehr. Alles hat nicht nur seine Zeit, sondern auch seine Zeiten. Die Dinge, die Abläufe, die unterschiedlichen Systeme, sie alle haben ihre je eigenen Zeitqualitäten. Eine Barocktreppe hat und provoziert bei denjenigen, die sie betreten, eine andere Zeit als eine Rolltreppe. Wir reden, wenn wir schnell miteinander gehen, anders und auch über etwas anderes als dann, wenn wir am Strand entlangschlendern. Jede Straße, jeder Stadtbezirk, jede Gesellschaft, jede Firma signalisiert und offeriert ihre je eigene zeitliche Bewegungsanweisung, auf die hin die Subjekte durch ein je spezifisches Verhalten reagieren.
Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von »Affordanz«, ein Terminus, der den Aufforderungscharakter der Umwelt mit Blick auf eine bestimmte Form des Handelns und Verhaltens benennt. Die Gegenstände, die Dinge, die soziale Mitwelt, die Umgebungsatmosphäre sagen, was man tun soll. Sie senden Aufforderungsimpulse im Hinblick auf ein bestimmtes Zeitverhalten aus. Ein Sessel oder eine Sitzbank fordern zum Niederlassen, zum Pausieren auf, eine Espressobar, ein Stehtisch hingegen zum schnellen Verzehr. Das wird viel zu selten von denjenigen ins Kalkül gezogen, die – wie Kommunalpolitiker, Stadtplaner, Architekten – darüber entscheiden, inwieweit die urbane Lebenswelt den Bürgern ein buntes, vielfältiges Zeithandeln ermöglicht, es fördert oder behindert. Die Wissenschaft hat mittels Beobachtungen und Experimenten mehrfach bewiesen, dass die menschliche Aktivität, speziell auch die im Straßenverkehr, von der räumlichen Ausstrahlung, der architektonischen Umgebung und den Wirkmächten von Straßenführung und Straßenbreite beeinflusst und bestimmt wird. Breite Straßen fordern zum Gasgeben auf, krumme Wege, enge Kurven hingegen zum Verlangsamen. Doch nicht nur Autofahrer, auch Fußgänger reagieren entsprechend.
Ganz ähnlich auch die Geschwindigkeiten beim Denken. Das Rationale dient vielfach der Beschleunigung, der Zeitkontrolle und der Zeitverdichtung. Das Gefühlvolle, das Emotionale, aber auch das Soziale tendieren zu Verzögerungen, zu Abschweifungen, zu Umwegen. Gebraucht wird beides, möglich muss beides sein: Schnelligkeitund Langsamkeit. Eines der schönsten und überzeugendsten Beispiele dafür liefert uns Charles Dickens in seinem RomanDie Pickwicker. Er gibt darin höchst präzise Verhaltensregeln zum Einfangen verloren gegangener Kopfbedeckungen:
»Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, sonst stürmt man über ihn hinaus; man darf nicht zu langsam sein, sonst verliert man ihn. Die beste Art, ihn einzufangen, ist, möglichst in gleicher Linie mit dem verfolgten Gegenstand zu bleiben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken. Dabei empfiehlt es sich, fortwährend zu lächeln, als hielte man alles für einen ebenso guten Spaß wie jeder andere.«
Die Moral von der Geschichte: Um gut behütet durchs Leben zu kommen, muss man sowohl langsam als auch schnell sein können. Die immer nur Schnellen, die stets Gehetzten und andauernd Hastigen erhaschen nicht den Hut, sie greifen nur in die Luft. Das Gleiche widerfährt auch denjenigen, die sich allem und jedem nur langsam nähern. Auch sie bekommen im Leben wenig zu fassen, greifen häufig ins Leere. Die Schnelligkeit braucht Langsamkeit, wenn sie denn sinnvoll und erfolgreich sein soll – und ebenso braucht Langsamkeit auch die Möglichkeit zur Schnelligkeit. Und darüber hinaus benötigen wir langsame Schnelligkeit und schnelle Langsamkeit. Nur zusammen sind Langsamkeit und Schnelligkeit produktiv und schöpferisch, so wie es sinnlos wäre, etwas anzufangen, wenn es kein Ende gäbe. Es existiert nun mal kein Schluss, dem nicht ein Beginn vorausgehen würde. Gäbe es keine Staus, keinen Stillstand im Straßenverkehr (in Erinnerung an das, was wir vermissen, sprechen wir gerne von Rushhour) würden wir uns nicht freuen, uns danach wieder rasch fortbewegen zu können; würde der Zug, mit dem wir zu fahren beabsichtigen, niemals halten, würden wir nicht einsteigen. Wer große Fische angeln, den vom Kopf gewehten Hut wieder einfangen, einen guten Einfall haben oder den Paukenschlag an der richtigen Stelle platzieren will, muss dazu fähig sein, eine Zeit lang nichts zu tun, um im nächsten Moment rasch zuzugreifen. Anhaltende Geschäftigkeit, fortdauerndes Aktivsein, beständige Schnelligkeit würden alles verderben. Selbst die schnellste Uhr braucht eine Hemmung.
Geht es um Zeitqualitäten, ist jedes schematische »Entweder-oder« unangebracht, unfruchtbar, ja unsinnig. Die unterschiedlichen Zeitqualitäten sind im fruchtbaren Sinne miteinander verwoben. Sie entfalten dort ihre höchstmögliche Produktivität, wo sie, mit einem Ausdruck von Karl Rahner, in »versöhnter Verschiedenheit« existieren und wirksam werden. Nur so können sich die Menschen mit der Zeit, dem Zeitlichen und ihrem Zeitempfinden versöhnen und versöhnt miteinander leben. Eine Vorstellung dessen, wie so etwas aussehen könnte, liefert Goethe in seinerFarbenlehre: »Mit leisem Gewicht und Gegengewicht wägt sich die Natur hin und her und so entsteht ein Hüben und Drüben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und Hernach, wodurch alle Erscheinungen bedingt werden, die uns in Raum und Zeit entgegentreten.« Endlose Langsamkeit ist für die, die auch schnell sein können, langweilig und hinderlich. Doch auch die, die immer nur schnell sind, verpassen viel, laufen an Wichtigem vorbei und gefährden darüber hinaus Leib und Leben.
Versöhnte Widersprüche sind keine glattgebügelten Wide