: Johanna Spyri
: Heidi Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder lieb haben
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104022987
: Fischer Klassik Plus
: 1
: CHF 4.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK. Das Waisenmädchen Heidi und ihr mürrischer Großvater, der Geißenpeter, Klara und Fräulein Rottenmeier - wer kennt sie nicht? Mit den atmosphärischen Schilderungen der Schweizer Berge und ihrer liebevollen Figurenzeichnung erreicht Johanna Spyri weltweit die Herzen ihrer Leser. Und bis heute haben Jung und Alt mit Heidi Heimweh, bis heute weckt sie unsere Sehnsüchte.

Johanna Louise Heusser wurde 1827 in Hirzel geboren. 1852 übersiedelte sie nach ihrer Hochzeit nach Zürich. 1880 erschien, zunächst anonym, der Roman »Heidis Lehr- und Wanderjahre«, der sofort riesigen Erfolg hatte. Die zweite Auflage, die noch im selben Jahr gedruckt wurde, erschien unter dem Namen der Autorin: Johanna Spyri. 1881 veröffentlichte sie dessen Fortsetzung »Heidi kann brauchen, was es gelernt hat«. Johanna Spyri starb 1901 in Zürich.

Heidis Lehr- und Wanderjahre


Erstes KapitelZum Alm-Öhi hinauf


Vom freundlich gelegenen, alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen in solcher Glut standen, daß sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammenrot durchleuchtete. Es war auch kein Wunder: das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; welches aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so daß die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und »im Dörfli« heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von der Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillezustehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief eine Stimme aus einer Tür: »Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.«

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

»Bist du müde, Heidi?« fragte die Begleiterin.

»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben; du mußt dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben«, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des »Dörfli« und vieler umherliegender Behausungen.

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?« fragte jetzt die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.«

»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muß dort bleiben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk’ ich, nicht recht beim Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!«

»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun; ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das Seinige tun.«

»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«, bes