Vorwort
Dieses Buch geht der Frage nach, wovon wir träumen müssen, um etwas Anderes leben zu können. Welche fiktiven Welten müssen wir produzieren, um eine andere, wirkliche Welt realisieren oder in Gang halten zu können?
Fragen wie diese scheinen im Moment ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Im Maßstab des individuellen Lebens haben postmoderne Identitätspolitiken uns die Vorstellung nahegelegt, jeder, jede und jedes wäre nur einer, eine und eines, und sonst nichts. Dass man, gerade um etwas Bestimmtes zu sein, vielleicht noch etwas Zweites, Anderes sein, oder es wenigstens als Fiktion mit sich tragen muss, fällt gerade in der Postmoderne schwer zu denken – was möglicherweise zur unglücklichen Unabschließbarkeit der »Selbstkonstruktionen« beiträgt, mit der viele Individuen derzeit beschäftigt scheinen: Es gelingt ihnen eben bezeichnenderweise kaum jemals, jenes mythische Eine zu finden, das sie angeblich voll und ganz sein könnten und sollten. Auch im Liebes- und Beziehungsleben besteht große Unduldsamkeit gegen zweite Welten: Gemäß einer postmodernen »Verhandlungsmoral« sollen alle einfach sagen, was sie wollen, und dann, so denkt man, werden sie es doch wohl auch bekommen. Im Fernsehen erklären Ehepaare stolz oder trotzig, sie hätten keine Geheimnisse voreinander. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Liebespartner ohne jedes Geheimnis meistens auch als reizlos empfunden werden und dass der Verzicht auf jegliche Fiktion auch die Wirklichkeit des Liebes- und Sexuallebens zum Erliegen bringt.
Auf politischer Ebene hat die Postmoderne uns mit dem »Ende der großen Erzählungen« vertraut gemacht. So scheint es, dass nur frühere Epochen an etwas Bestimmtes geglaubt hätten, während sie munter etwas anderes zur Realisierung brachten. Wir dagegen glauben angeblich an nichts mehr, und das mag unsere Unfähigkeit zu jeglichem Handeln und zum politischen Engagement erklären. Freilich aber erklärt es andererseits nicht die beeindruckende Initiativkraft, mit der die Profiteure der internationalen Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten sich selbst sehr reich und die Gesellschaften unerwartet arm gemacht haben. Unter der Annahme, dass hier nichts geglaubt worden wäre, wird übersehen, welche Einbildungen zu solchen Aktivitäten nötig waren und in welchen Institutionen und politischen Maßnahmen diese Einbildungen materielle Gestalt annehmen mussten, um die neoliberalen Wirklichkeiten zu stützen. Ohne die Erkenntnis der idyllischen zweiten Welten, die hier am Werk waren, übersieht man auch, welche Chancen es gibt, den grausamen ersten Welten Schwierigkeiten zu machen. Die verbreitete Vorstellung von der Ungreifbarkeit des neoliberalen Feindes, jenes mythischen »1 percent« von Nutznießern, würde sich schlagartig ändern, sobald man in Betracht zieht, wie viele kleine Nebenprofiteure und pseudopolitische Komplizen nötig waren, um den großen Profiteuren ungestörtes Arbeiten zu ermöglichen. Wer den einen, großen Feind nicht finden kann, tut vielleicht gut daran, sich mal nach dessen vielen kleinen Gehilfen umzusehen.
So sehr die Postmoderne also die Individuen zur Einheitlichkeit mahnt, erlaubt sie sich selbst in ihrer neoliberalen Wirklichkeit ein Doppelleben – einen Paarlauf von Großprofiteuren und Kleinbeschwichtigern. Die Individuen werden homogenisiert; alles Zweite, Randständige sollen sie in ihrem Ich unterbringen. Die Gesellschaft dagegen fährt mindestens zweigleisig, aber dies bleibt aufgrund unserer zunehmend homogenisierten Sehgewohnheiten mehr und mehr unsichtbar.
Freilich treten in der Postmoderne auch tatsächlich homogen anmutende Individuen auf: Sie sind zum Beispiel ganz Primitive (etwa als rückhaltlose Komatrinker), total Schamlose (in Gestalt pornofixierter Unterschichtler), völlige Idioten, vollkommen Hilflose und Schwache etc. Allerdings sind diese neuen Phänomene, wie wir zeigen möchten, immer Effekte ihrer Betrachtung. Diese Leute »sind« deshalb so, weil sie das Gefühl haben, dass es jemanden gibt, der sie gerne so sehen möchte. Für diese Zusammenhänge hat Sigmund Freud den Begriff der »Übertragung« entworfen. Übertragung besteht darin, dass jemand im Verhältnis zu jemand anderem etwas produziert, was sonst, ohn