: Virginia Woolf
: Nicole Seifert
: Schreiben für die eigenen Augen Aus den Tagebüchern 1915-1941
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104018966
: Fischer Klassik Plus
: 1
: CHF 4.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 372
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK »Ein Dialog der Seele mit der Seele« (Virginia Woolf über ihre Tagebücher) Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk, das ihr inneres und äußeres Dasein von 1915 bis zu ihrem Tod 1941 dokumentiert. Eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen macht unser Bild von ihrem Leben und ihrer Persönlichkeit um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Wir sehen, welchen Mut sie immer wieder ihren Ängsten und psychischen Krisen entgegensetzte - und wie genau sie ihre Umwelt beobachtete, mit Witz und Freude an Spott und Klatsch.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Mittwoch5. März1919


Gerade zurückgekehrt von4 Tagen in Asheham & einem in Charleston;[52] ich sitze & warte darauf, daß Leonard nach Hause kommt, während mein Kopf immer noch die Schienenstränge entlangläuft, was ihn untauglich macht fürs Lesen. Aber du liebe Güte, was muß ich alles lesen! Sämtliche Werke von Mr James Joyce, Wyndham Lewis, Ezra Pound, um sie mit sämtlichen Werken von Dickens & Mrs Gaskell zu vergleichen; außerdem George Eliot & schließlich Hardy.[53] Und ich habe gerade Tante Anny abgeschlossen, aus einer wirklich großzügigen Perspektive.[54] Ja, seit ich das letzte Mal schrieb, ist sie gestorben, heute vor einer Woche genau, in Freshwater, & ist gestern in Hampstead beerdigt worden, wo wir vor6 oder7 Jahren mit dabei waren, als Richmond in einem gelben Nebel beerdigt wurde. Ich vermute, mein Gefühl für sie ist zur Hälfte Mondschein; oder richtiger, zur Hälfte eine Rückspiegelung anderer Gefühle. Vater mochte sie; sie tritt ab als die letzte, beinahe, aus jener alten Hyde Park Gate-Welt des19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den meisten alten Damen schien sie sehr wenig darauf aus zu sein, daß man sie besuche; es war ihr wohl fast etwas schmerzlich, meine ich manchmal, uns zu sehen, als wären wir weit fortgegangen & erinnerten sie an unglückliche Zeiten, mit denen sie sich nie beschäftigen mochte. Außerdem war sie, im Gegensatz zu den meisten alten Tanten, scharfsinnig genug um zu merken, wie deutlich wir uns in aktuellen Fragen unterschieden; & vielleicht war es das, was ihr das Gefühl gab – ein in ihrem Kreis sonst fast inexistentes Gefühl – von Alter, Überholtheit, Untergang. Was mich betrifft, hätte sie in dieser Hinsicht allerdings unbesorgt sein können, da ich sie aufrichtig bewunderte; dennoch sieht für die Generationen gewiß alles anders aus. Vor zwei oder vielleicht drei Jahren statteten L. & ich ihr einen Besuch ab; wir fanden sie sehr geschrumpft, mit einer Federboa um den Hals, und allein in einem Salon sitzend, der fast eine Kopie, in kleinerem Maßstab, des alten Salons war; die gleiche gedämpfte angenehme Atmosphäre des18. Jahrhunderts & alte Porträts & altes Porzellan. Der Tee war schon für uns bereitet worden. Ihr Gebaren hatte ein wenig Distanz, & mehr als nur ein wenig Melancholie. Ich fragte sie nach Vater, & sie erzählte, wie diese jungen Männer immer auf eine »laute melancholische Art« lachten & daß ihre Generation eine sehr glückliche gewesen wäre, aber selbstsüchtig; & daß unsere ihr in Ordnung scheine aber ziemlich fürchterlich; aber wir hätten keine solchen Schriftsteller wie sie gehabt hätten: »Manche haben einen Anflug jener Qualität; Bernard Shaw; aber nur einen Anflug. Das Angenehme war, sie alle als gewöhnliche Menschen zu kennen, nicht als große Männer –« Und dann eine Geschichte von Carlyle & Vater; wobei Carlyle sagte, er würde lieber sein Gesicht in einer schmutzigen Pfütze waschen, denn als Journalist arbeiten. Sie fuhr mit der Hand, erinnere ich mich, in eine Tasche oder Schachtel, die hinter dem Kamin stand, & sagte, sie habe einen Roman, dreiviertel fertiggeschrieben, aber sie könne ihn nicht beenden – und ich glaube nicht, daß sie ihn beendet hat. Aber ich habe alles gesagt, was es zu sagen gibt, le