Geschichten aus dem Antiquariat
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Mit fünfzehn erlebte ich meinen ersten Karrieresprung. Hatte ich bis dahin nur den gestrichenen Dielenboden fegen und die Ware auf den bunt zusammengewürfelten, grob gezimmerten Regalen in Ordnung bringen dürfen, hatten sie mich immer nur zu Steve’s Restaurant rübergeschickt, um Kaffee (»nicht zu stark«, in Pappbechern, die mit dem Abbild des Parthenon geschmückt waren) zu holen sowie scharf angeröstete Mais-Muffins, durfte ich nun allein den Laden aufschließen. Und zwar samstags und sonntags. Es war ein kleines Antiquariat auf der Atlantic Avenue, neben Teppiche Kalfian. Gegenüber war ein Reifenhändler, sonst war auf der Straße überhaupt nichts los. Heute sieht es dort ganz anders aus. Wir werden niemals erfahren, was uns die Sanierungswelle gebracht hätte, wir waren mit unserem exzentrischen kleinen Antiquariat zwanzig oder dreißig Jahre zu früh.
Michael war ein Langschläfer, und es fiel ihm von Mal zu Mal schwerer, sich aufzuraffen, um einem leeren Geschäft vorzustehen. Die Lösung dieses Problems war ich, der Junge von nebenan, der nur um der Anerkennung willen für die Erwachsenen »schuftete«, auch wenn ich eigentlich nichts tat, als zu lesen, mich im wohnzimmerartigen Lager umzusehen und ein Spiel zu spielen, das ich »Gott der Bücher« nannte. Meine »Bezahlung« bestand darin, dass ich mir ein paar Bücher mitnehmen durfte. Ich war ständig damit beschäftigt, einen Stapel im hinteren Teil des Flurs zu pflegen, bis ich schließlich genug verdient hatte, um die Bücher in meinem Rucksack verschwinden zu lassen. In einer Vitrine bewahrten wir außerdem die Sonderausgaben auf, darunter zwei, die ich unbedingt haben musste. Es dauerte Monate, bis ich genug angespart hatte:Hamlet, die Korrespondenz von Henry Miller und Michael Fraenkel, unbeschnitten und mit rotem Bändchen, sowie eine signierte Ausgabe von Bernard Wolfes geheimnisvollem RomanLimbo. (Den Wolfe besitze ich heute noch, doch ich habe vergessen, wie mir der Miller-Fraenkel abhandengekommen ist.)
Immer um elf, nachdem ich mir Tee geholt hatte (keinen Kaffee, aber einen gerösteten Mais-Muffin), zerrte ich den Wagen mit den klaubaren Taschenbüchern auf den Bürgersteig und stellte ihn vor das Schaufenster. Dann pflanzte ich mich hinter den massiven alten Schreibtisch, der aus Überwachungsgründen gleich rechts neben der Tür stand, und wartete auf den ersten Kunden. Manchmal wartete ich über eine Stunde. Da wir keine Heizung hatten, trug ich in der kalten Jahreszeit stets Schal und Mütze und rieb die Handschuhe aneinander, ungeduldig, dass die ersten Sonnenstrahlen ins Schaufenster fielen und den vorderen Teil des Ladens aufwärmten. Das Wechselgeld lag in der obersten Schublade in einer Zigarrenkiste, und beim einzigen Mal, dass ich kurz meinen Posten verließ, eine Minute, nicht länger, wurde die Kiste ausgeräumt. Meine Schuld, ich weiß, aber Michael schüttelte nur den Kopf, er wusste, dass Diebstahl in diesem Viertel einfach dazugehörte. Der Vorfall sprach nicht gegen mich, sondern gegen die Geschäftslage, und es dauerte nicht lange, bis er mit seinem kleinen Laden nach Manhattan umzog, in ein Untergeschoss auf der Vierundachtzigsten Straße, Upper East Side – der Laden war halb so groß wie in Brooklyn und brachte hundertmal mehr ein.
Lovec