In Hugos Leben wäre vieles anders gekommen: wenn sein Vater ihn je beiseite genommen hätte. Sechs, acht oder zehn Jahre später, als alles vorüber und doch nicht zu[95] Ende war. Wenn er zu ihm gesagt hätte, jetzt will ich dir mal erzählen, wie es mir ergangen ist. Damit du manches begreifst. Die Ungeduld, die Härte, die Reizbarkeit. Man nimmt ja auch Schaden. Wenn er ihn beispielsweise durch das Gerichtsgebäude in der Bellevuestraße geführt hätte, das nur noch in seinen Alpträumen existierte, seit es, im Februar fünfundvierzig, bei einem Luftangriff auf Berlin zerstört worden war. Durch das Labyrinth aus unterirdischen Gängen, Treppen und Kammern, vorbei an einer langen Reihe aneinandergeschweißter Spinde, in denen nicht Kleider, sondern Menschen steckten (Verurteilte, die bis zum Abtransport nach Plötzensee hier aufbewahrt wurden), hinauf in den Verhandlungstrakt, hinein in den Saal, auf die Anklagebank, die keine richtige Bank war, eher eine Art Koben auf einem Podium und mit einem Sitzbrett an der Rückseite. Wenn er ihm gezeigt hätte, wie der Reihe nach der Offizialverteidiger, der Staatsanwalt und ein Mann in Straßenkleidung, mit einer Mappe unter dem Arm den Gerichtssaal betraten. Den Einzug der Richter und Beisitzer (zwei in roten Roben, einer in der Uniform einesSA-Brigadeführers, einer in der eines Generalarbeitsführers, einer in Zivil, mit Parteiabzeichen auf dem Revers). Wenn er seine Beklemmung beim Anblick des Vorsitzenden mit ihm geteilt hätte: hagere Gestalt, schmaler Schädel mit Halbglatze, scharf geschnittene Nase. (Er glaubte im ersten Moment, Roland Freisler vor sich zu haben, den er von Fotos her kannte, die in der ›Roten Fahne‹ erschienen waren, aber[96] laut Urteilsschrift handelte es sich um den Senatspräsidenten Kurt Albrecht.)
Wenn also, und wie.
Wenn er ihm zugemutet hätte, ihn anzuhören. Wie Albrecht ihn aufforderte, dem Gericht seinen Lebensweg zu schildern. Wie er plötzlich von einer inneren Ruhe erfaßt wurde und mit kräftiger Stimme, sachlich und vehement zugleich, zu sprechen begann: von Not und Entbehrung im Elternhaus, Fronteinsatz des Vaters, Krankheit und frühem Tod der Mutter, Eintreten für die Arbeitskollegen, Bemühen um die Erwerbslosen. Wie er seine Empörung über die gnadenlosen Bestimmungen des Friedensvertrages und seinen Protest gegen die Besetzung des Ruhrgebiets in die Rede einflocht. Wie es ihm gar nicht schwer fiel, die Schnittmenge zu treffen von dem, was er getan hatte und was die Nazis unter Idealismus verstanden. (Uneigennützig, darauf lief seine Selbstdarstellung hinaus. Dann sagte er noch: Ich bin nicht schuldig.) Wie Albrecht keine Miene verzog, in seinen Akten blätterte, ihnen zwei kleinformatige Zeitungen entnahm, die er an die Beisitzer weiterreichte, wieder einholte, hochhielt. (Er wußte gleich, um welche Blätter es sich handelte, schließlich war jede Ausgabe durch seine Hände gegangen.) Wie Albrecht ihn beschuldigte, diese Schriften nach dem Reich verschickt zu haben, an verdienstvolle Funktionäre in Bad Kreuznach, deren Adressen nur er kennen konnte, der Angeklagte Salzmann, Schriften, die gegen den F