1.Die Identität Südasiens
Die mit dem Ausdruck »Südasien« belegte Idee ist in gewissem Maße künstlich – eine ebenso erfundene und moderne Bezeichnung wie »Südostasien« oder »Mittlerer Osten«. Die Verwendung eines einzigen Ausdrucks für einen so riesigen, bevölkerungsreichen und kulturell vielfältigen Teil der Erde wirft unvermeidlich Fragen nach dem Wert dieser Bezeichnung auf. Besitzt dieses weiträumige Gebiet, das sich heute auf sieben Staaten verteilt (Indien, Pakistan, Bangladesh, Sri Lanka, Nepal, Bhutan und die Malediven) genügend gemeinsame Merkmale, um es zu Recht als ein Ganzes zu behandeln? Ist es sinnvoll, Südasien von den benachbarten Regionen zu trennen? Afghanistan, Iran und in geringerem Maße auch Tibet und Birma (Myanmar) besitzen so starke historische Verbindungen zu Südasien, dass dessen Geschichte ohne sie gar nicht verständlich wäre. Dennoch gibt es gute Gründe für den Gedanken, dass diese Länder außerhalb des eigentlichen Südasien liegen.
Als »Indien« bezeichnete man einst nahezu die gesamte Landmasse südlich des Himalaya, mit Ausnahme der Insel Sri Lanka (ehemals Ceylon). Auch heute spricht man noch oft vom »indischen Subkontinent« oder im Englischen einfach von»the subcontinent«. Es gibt jedoch gute Gründe, den Ausdruck »Indien« nicht mehr in dieser weitgefassten Bedeutung zu verwenden. Indien ist keine einheimische Bezeichnung, sondern stammt von Fremden, die aus dem Nordosten kamen und in deren Augen dieses unbekannte Land am Indus begann. Es wurzelt aus dem Sanskritwort »Sindhu« (Fluss, Meer), aus dem auch der Name der heute in Südpakistan gelegenen Provinz Sind und die Ausdrücke »Hindu«, »Hindi« und »Hindustan« abgeleitet sind. Die Briten verwandten den Ausdruck »Indien« in ihrer zweihundert Jahre währenden Zeit als Kolonialmacht zur Bezeichnung ihres südasiatischen Empire (außer Ceylon, das einer gesonderten Verwaltung unterlag). Jedoch seit der Unabhängigkeit im Jahr1947 und der Entstehung der neuen Staaten Indien und Pakistan ist es anachronistisch, den gesamten Subkontinent als Indien zu bezeichnen. »Südasien« erlaubt dagegen auch die Einbeziehung Nepals (das nie zu Britisch-Indien gehörte), Bangladeshs (das sich1971 von Pakistan abspaltete), Ceylons (das1948 unabhängig wurde und sich1971 in Sri Lanka umbenannte) sowie der beiden unabhängigen Staaten Bhutan und Malediven. Da der Ausdruck »Südasien« das Gebiet nicht mit einem der dortigen Staaten gleichsetzt, ist er politisch neutral. Historisch lädt er dazu ein, die Geschichte der Region als ein Ganzes zu betrachten, das nicht hermetisch gegenüber dem Rest der Welt abgeschlossen war (wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche), aber über zahlreiche Gemeinsamkeiten verfügt.
Dennoch ist Südasien ein im Innern sehr vielgestaltiges Gebilde. Der Subkontinent (ich werde diesen Ausdruck als Synonym für »Südasien«