Fußnote 1
Ländliche Idylle
Das Foto befindet sich in einem Silberrahmen, der mit rotem Samt gepolstert ist und in der Mitte ein ovales Glas hat, durch das meine Urgroßmutter skeptisch in die Welt blickt.
Sie hält sich sehr gerade und hat die eheberingte Hand auf die Rückenlehne einer Chaiselongue gestützt. Den Hintergrund bildet eine für die damalige Zeit typische Studiokulisse mit einer verträumten, mediterranen Hügellandschaft, vor der sich ein von einer Balustrade überdachter Trompe-l’œil-Treppenaufgang emporschwingt. Die Haare meiner Urgroßmutter sind in der Mitte gescheitelt und in einer Krone aus Zöpfen um ihren Kopf gewunden. Das Miederoberteil ihres hochgeschlossenen Satin-Kleides wirkt proper und prall wie ein Sofakissen. Um den Hals trägt sie ein kleines Medaillon, und ihre Lippen sind ein wenig geöffnet, was den Eindruck erweckt, sie würde darauf warten, dass irgendetwas passiert. Ihr Kopf ist leicht nach hinten geneigt, doch sie schaut direkt in die Kamera (oder zum Fotografen hin). Auf dem Foto sehen ihre Augen dunkel aus und haben einen unergründlichen Ausdruck. Sie scheint gerade etwas sagen zu wollen, aber was das sein könnte, entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen.
Ich hatte dieses Foto noch nie zuvor gesehen. Bunty hat es eines Tages wie aus dem Nichts hervorgezaubert. Ihr Onkel Tom war gerade im Pflegeheim verstorben, und sie hatte seine wenigen Habseligkeiten, die in einem Pappkarton Platz fanden, abholen müssen. Diesem Karton entnahm sie dann das Foto, und als ich sie fragte, wer das sei, erzählte sie mir, dass es sich um ihre Großmutter, meine Urgroßmutter, handle.
»Sie hat sich ziemlich verändert, nicht wahr?«, sagte ich, während ich über das Glas strich und mit dem Finger die Gesichtsform meiner Urgroßmutter nachzeichnete. »Auf dem Foto, das du hast, ist sie fett und hässlich – du weißt schon, das Familienfoto, das im Hinterhof der Lowther Street aufgenommen wurde.«
Dieses Foto, auf dessen Rückseite Bunty mit wasserblauer Tinte »Lowther Street, 1914« geschrieben hatte, zeigt meine Urgroßmutter im Kreise ihrer ganzen Familie. Sie thront mächtig und breit in der Mitte einer Holzbank, und neben ihr sitzen auf der einen Seite Nell (Buntys Mutter) und auf der anderen Lillian (Nells Schwester). Hinter ihnen steht Tom, und auf dem Boden zu Rachels Füßen kauert Albert, der jüngste Bruder. Die Sonne scheint, und auf der Mauer im Hintergrund blühen Blumen.
»Nein, nein«, sagte Bunty abwesend. »Die Frau auf dem Lowther-Street-Foto ist Rachel – die Stiefmutter, nicht dierichtige Mutter. Sie war eine Cousine oder so was.«
Die Frau in ihrem gepolsterten Rahmen – die richtige Mutter, die wahre Braut – starrt unergründlich über die Zeiten hinweg in die Gegenwart hinein. »Wie war ihr Name?«
Bunty musste einen Moment lang überlegen. »Alice«, verkündete sie schließlich. »Alice Barker.«
Wie sich herausstellte, war meine neu entdeckte Urgroßmutter bei der Geburt von Nell gestorben, und kurz darauf hat dann mein treuloser Urgroßvater Rachel geheiratet (die falsche Mutter, die falsche Braut). Bunty erinnerte sich noch vage, dass laut Überlieferung Rachel ins Haus gekommen war, um sich um die Kinder zu kümmern und als schlecht bezahlte Haushälterin zu arbeiten. »Sechs mutterlose Kinder«, erklärte sie in ihrer Bambis-Mutter-ist-tot-Stimme. »Er musste sich wieder verheiraten.«
»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«
»Ich habe es vergessen«, sagte Bunty trotzig.
Die vergessene Alice schaute starr geradeaus. Vorsichtig löste ich das Foto aus dem Rahmen, und weitere Details i