Das Handtuch mit dem Hahn
Wer noch nie im Pferdewagen öde Feldwege entlanggezockelt ist, dem brauche ich nichts darüber zu erzählen, er begreift es doch nicht. Wer es aber schon erlebt hat, den möchte ich nicht daran erinnern.
Kurz und gut: Für die vierzig Werst, die die Kreisstadt Gratschowka vom Krankenhaus in Murjewo trennen, brauchten der Fuhrmann und ich genau vierundzwanzig Stunden. Kurios genau: Um zwei Uhr nachmittags am 16. September 1917 passierten wir den letzten Kornspeicher am Stadtrand des bemerkenswerten Gratschowka, und um fünf nach zwei am 17. September desselben unvergeßlichen siebzehner Jahres stand ich auf dem vom Septemberregen gepeitschten sterbenden und zerlaugten Gras im Hof des Krankenhauses von Murjewo. Da stand ich und war in folgender Verfassung: die Beine dermaßen steif, daß ich gleich hier im Hof in Gedanken Lehrbücher durchblätterte, stumpf bemüht, mich zu entsinnen, ob tatsächlich eine Krankheit existiert, bei der die menschlichen Muskeln erstarren, oder ob ich das nachts im Dorf Grabilowka nur geträumt hatte. Wie hieß sie auf lateinisch, die verfluchte Krankheit? Jeder Muskel schmerzte unerträglich und erinnerte an Zahnweh. Von den Zehen ganz zu schweigen, sie ließen sich im Stiefel nicht mehr bewegen und lagen reglos wie hölzerne Stummel. Ich gebe zu, in einer Anwandlung von Kleinmut habe ich flüsternd die Medizin verwünscht wie auch die Studienbewerbung, die ich fünf Jahre zuvor beim Rektor der Universität eingereicht hatte. Von oben schüttete es unterdes wie aus einem Sieb. Mein Mantel war vollgesogen wie ein Schwamm. Mit den Fingern der rechten Hand versuchte ich vergeblich, den Koffergriff zu fassen, und spuckte schließlich ins nasse Gras. Meine Finger konnten nichts greifen, und wieder fiel mir, der ich mit allerlei Kenntnissen aus interessanten medizinischen Büchern vollgestopft war, eine Krankheit ein: die Paralyse. Paralysis, sagte ich, weiß der Teufel weshalb, verzweifelt zu mir.
»A-an eure Straßen hier muß man sich erst g-gewöhnen«, sprach ich mit hölzernen blauen Lippen.
Dabei glotzte ich den Fuhrmann böse an, obwohl er eigentlich am Zustand der Straße keine Schuld trug.
»Ach, Genosse Doktor«, antwortete er und konnte die Lippen unter dem blonden Schnurrbärtchen kaum bewegen. »Ich fahr hier schon fünfzehn Jahre und hab mich auch noch nicht daran gewöhnt.«
Ich erschauerte und betrachtete verzagt das zweigeschossige Gebäude mit der abblätternden weißen Farbe, die ungeweißten Balkenwände des Feldscherhäuschens und meine künftige Residenz, ein zweigeschossiges, blitzsauberes Haus mit geheimnisvollen grabesartigen Fenstern, und stieß einen langen Seufzer aus. Sogleich durchzuckte meinen Kopf statt lateinischer Wörter der genießerische Satz, den in meinem von der Kälte und dem Geschaukel benommenen Gehirn ein dicker Tenor mit hellblauen Hüften sang:
Sei mir gegrüßt, ersehntes Obdach …
Leb wohl, leb wohl für lange, goldrotes Bolschoi-Theater, Moskau, Schaufenster … ach, lebt wohl.
Das nächste Mal ziehe ich den Schafpelz an, dachte ich mit wütender Verzweiflung und zerrte steiffingrig an den Kofferriemen. Allerdings ist das nächste Mal schon Oktober, da kann ich gleich zwei Schafpelze anziehen. Und vor einem Monat fahre ich nicht nach Gratschowka. Auf keinen Fall. Überlegen Sie selb