: Pascal Mercier
: Lea Novelle
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446241176
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die achtjährige Lea hat sich nach dem Tod der Mutter in eine eigene Welt zurückgezogen, zu der auch der Vater keinen Zutritt hat. Erst der Klang einer Geige holt sie ins Leben zurück. Sie erweist sich als außerordentliche musikalische Begabung und mit achtzehn liegen ihr Publikum und Musikwelt zu Füßen. Doch Martin van Vliet, ihren anfangs überglücklichen Vater, treibt es immer tiefer in die Einsamkeit. Bei dem verzweifelten Versuch, die Liebe und Nähe seiner Tochter zurückzugewinnen, verstrickt er sich in ein Verbrechen ...

Pascal Mercier (1944-2023) wurde in Bern geboren und lebte in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (2004) einer der größen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea und 2020 der Roman Das Gewicht der Worte. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit (2001) sowie Eine Art zu leben (2013). Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

1


WIR SIND UNS an einem hellen, windigen Morgen in der Provence begegnet. Ich saß vor einem Café in Saint-Rémy und betrachtete die Stämme der kahlen Platanen im bleichen Licht. Der Kellner, der mir den Kaffee gebracht hatte, stand unter der Tür. In seiner abgetragenen roten Weste sah er aus, als sei er das ganze Leben lang Kellner gewesen. Ab und zu zog er an der Zigarette. Einmal winkte er einem Mädchen zu, das quer auf dem Rücksitz einer knatternden Vespa saß, wie in einem alten Film aus meiner Schulzeit. Nachdem die Vespa verschwunden war, blieb das Lächeln noch eine Weile auf seinem Gesicht. Ich dachte an die Klinik, in der es nun schon die dritte Woche ohne mich weiterging. Dann sah ich wieder zu dem Kellner hinüber. Sein Gesicht war jetzt verschlossen und der Blick leer. Ich fragte mich, wie es gewesen wäre, sein Leben zu leben statt des meinen.

Martijn van Vliet war zuerst ein grauer Haarschopf in einem roten Peugeot mit Berner Kennzeichen. Er versuchte einzuparken und stellte sich, obwohl Platz genug war, ungeschickt an. Die Unsicherheit beim Einparken wollte nicht zu dem großen Mann passen, der nun ausstieg, sich mit sicherem Schritt den Weg durch den Verkehr bahnte und auf das Café zukam. Er streifte mich mit einem skeptischen Blick aus dunklen Augen und ging hinein.

Tom Courtenay, dachte ich, Tom Courtenay im FilmThe Loneliness of the Long Distance Runner. An ihn erinnerte mich der Mann. Dabei sah er ihm gar nicht ähnlich. Es waren der Gang und der Blick, in denen sich die beiden Männer glichen – die Art und Weise, in der sie in der Welt und bei sich selbst zu sein schienen. Der Direktor des Colleges haßt Tom Courtenay, den schlaksigen Jungen mit dem verschlagenen Grinsen, doch er braucht ihn, um gegen das andere College mit seinem neuen Starläufer zu gewinnen. Und so darf er während der Unterrichtszeit laufen. Er läuft und läuft durch das farbige Herbstlaub, die Kamera auf dem Gesicht mit dem glücklichen Lächeln. Der Tag kommt, Tom Courtenay läuft allen davon, der Rivale sieht aus wie gelähmt, Courtenay biegt in die Zielgerade ein, Großaufnahme des Direktors mit dem feisten Gesicht, das im vorweggenommenen Triumph glänzt, noch hundert Meter bis zum Ziel, noch fünfzig, da wird Courtenay aufreizend langsam, bremst ab, bleibt stehen, Ungläubigkeit auf dem Gesicht des Direktors, jetzt erkennt er die Absicht, der Junge hat ihn in der Hand, das ist seine Rache für all die Schikanen, er setzt sich auf die Erde, schüttelt die Beine aus, die noch lange weitergelaufen wären, der Rivale läuft durchs Ziel, Courtenays Gesicht verzieht sich zu einem triumphierenden Grinsen. Dieses Grinsen, ich mußte es immer wieder sehen, in der Mittagsvorstellung, nachmittags, abends und samstags in der Spätvorstellung.

Ein solches Grinsen könnte auch auf dem Gesicht dieses Mannes liegen, dachte ich, als Van Vliet herauskam und sich an den Nebentisch setzte. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und schirmte die Flamme des Feuerzeugs mit der Hand gegen den Wind ab. Den Rauch behielt er lange in der Lunge. Beim Ausatmen warf er mir einen Blick zu, und ich war erstaunt, wie sanft diese Augen blicken konnten.

»Froid«, sagte er und zog die Jacke zu.»Le vent.« Er sagte es mit dem gleichen Akzent, mit dem auch ich es sagen würde.

»Ja«, sagte ich in Berner Mundart, »das hätte ich hier nicht erwartet. Nicht einmal im Januar.«

Etwas in seinem Blick veränderte sich. Es war keine angenehme Überraschung für ihn, hier einem Schweizer zu begegnen. Ich kam mir aufdringlich vor.

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