: Douwe Draaisma
: Das Buch des Vergessens Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462306484
: 1
: CHF 14.00
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Vergessen ist besser als sein Ruf. Das Standardwerk über den Nutzen und Nachteil des Vergessens für das Leben Warum erinnern wir uns so schlecht an unsere Träume? Was passiert mit verdrängten Erinnerungen - wo bleiben sie? Warum ist die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für uns so verführerisch, ja faszinierend? Warum gibt es Gedächtnistrainings, aber keine Vergessenstechnik? Mit solchen und vielen anderen Fragen nähert sich der holländische Bestsellerautor Douwe Draaisma in Das Buch des Vergessens umfassend, erhellend und unterhaltsam dem interessantesten Aspekt der Gehirnforschung: dem Vergessen. Unser Gedächtnis, so Draaisma, ist wie ein unfolgsames Kind: Woran wir uns erinnern, und woran nicht - darauf haben wir keinen Einfluss. Kein Wunder, dass es so schwer ist, die dahinterstehenden Mechanismen zu erkennen.Douwe Draaisma lädt seine Leser ein zu einem Streifzug durch Psychologie, Philosophie und Gehirnforschung, die sich seit Jahrhunderten mit dem Vergessen befassen. Er erzählt von Schlaflabors und Traumprotokollen, von Gehirnoperationen und Patientenschicksalen, er beschäftigt sich mit den neusten Techniken der Traumatherapie genauso wie er seinen Blick auf die Pioniere der Gedächtnisforschung richtet. Ein spannendes Buch, das vor allem eins klarmacht: Vergessen ist besser als sein Ruf.

Douwe Draaisma, Jahrgang 1953, ist Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. Für seine Leistungen auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung erhielt er 1999 den Heymanspreis. Bei Galiani sind bisher erschienen: Die Heimwehfabrik (2009), Das Buch des Vergessens (2012), Wie wir träumen (2015) und Halbe Wahrheiten (2016). Sein Buch Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird (2004) war ein sensationeller Erfolg. Seine Bücher wurden in alle Weltsprachen übersetzt.

Die Sammlung Scheepmaker


Im autobiografischen Gedächtnis befinden sich vor und nach ersten Aufzeichnungen leere Seiten. Obwohl sie den Anfang unserer Existenz als ein Wesen mit Gedächtnis markieren, unterstreichen diese leeren Seiten zugleich, von wie viel Vergessen die ersten Male umgeben sind. Die erste Erinnerung des Schriftstellers J. Bernlef ist, dass er durch Gitterstäbe schaut und laut »Uilie, Uilie!« ruft. Seine Eltern erklärten ihm später, er habe damals im Laufstall gesessen und ihr deutsches Dienstmädchen gerufen, das Uli hieß. Seine nächste Erinnerung bezieht sich auf ein drei Jahre später liegendes Ereignis. Frederick Forsyth war als Anderthalbjähriger von seinen Eltern kurzzeitig im Kinderwagen zurückgelassen worden, bewacht von einem Hund. Aber er hatte selbst Angst vor dem Hund, kletterte heraus, fiel, und der Hund leckte ihm durchs Gesicht. Danach folgt ein Loch von anderthalb Jahren. Das Kindergedächtnis ähnelt einem Motor, der gleich nach dem stotternden Start wieder aussetzt.

Die ersten Erinnerungen von Bernlef und Forsyth finden sich in dem 1988 erschienenen BüchleinDie erste Erinnerung.[9] Der Journalist Nico Scheepmaker hatte sechs Jahre lang die Leute, denen er privat und beruflich begegnete, nach ihrer ersten Erinnerung gefragt. So war eine Sammlung von 350 ersten Erinnerungen entstanden. Scheepmaker stellte an seine Sammlung keinerlei wissenschaftlichen Anspruch. Das hat manchmal Nachteile – er fragte nicht jedes Mal, wie alt der Erzähler bei der ersten Erinnerung war, sodass von ›nur‹ 263 Erinnerungen bei näherer Betrachtung das Alter festgestellt werden kann –, aber auch Vorteile. Er hatte sich nicht im Vorhinein in Theorien über das Gedächtnis in der Kindheit vertieft und notierte die Erinnerungen ohne Kommentar oder Bearbeitung. Psychologen haben im letzten Jahrhundert verschiedentlich Sammlungen erster Erinnerungen für die Forschung angelegt, aber fast immer stützen sich diese Sammlungen auf Fragebogen, die unter Studenten verteilt worden waren. Die Sammlung Scheepmaker umfasst die Erinnerungen von Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Berufen kommen und auch bezüglich Herkunft und Lebensalter sehr verschieden sind. Was aber diese Kollektion anderen Sammlungen vor allem voraushat, ist ihr Umfang. Man frage zehn Menschen nach ihrer ersten Erinnerung, und man erhält zehn Geschichten, man frage 350 Menschen, und man erhält Muster.

Jede erste Erinnerung ist mit Vergessen vermischt. Häufig erweist sich die erste Erinnerung bei näherer Betrachtung nicht als die erste. Scheepmaker selbst dachte, die Erinnerung an das noch warme Weißbrot, das er in den Ferien holen durfte, sei seine erste, bis seine Mutter erzählte, die Familie sei frühzeitig aus diesen Ferien zurückgekehrt, weil der Opa gestorben war, und er sich bewusst wurde, dass er auch noch Erinnerungen an diesen Opa hatte. Verleger Geert van Oorschot schickte Scheepmaker per Brief nachträglich eine erste Erinnerung, die noch älter war als die zuvor angegebene erste Erinnerung. Viele Menschen hatten drei, vier frühe Erinnerungen, die zusammengehörten, zum Beispiel, weil sie noch aus einer Zeit vor einem Umzug stammten oder weil jemand darin vorkam, der kurz danach starb. Die Chronologie hatten sie vergessen.

Manchmal hatten die Leute auch vergessen, woher genau ihre erste Erinnerung stammte. Hatten sie das wirklich selbst erlebt, war es ein Traum oder eine Geschichte, die in der Familie erzählt wurde? Berüchtigt ist das Foto, das zur Erinnerung wird. Ein Schwarz-Weiß-Foto, irgendwann einmal flüchtig gesehen – ein paar Jahre später hat das Gedächtnis den festgehaltenen Moment zum Leben erweckt und eine schillernde Erinnerung daraus gemacht, etwa so, wie manche Filme mit einem Standbild in Sepia beginnen, das plötzlich in Bewegung gerät. Der Journalist Henk Hofland lebte lange in der Überzeugung, seine erste Erinnerung sei ein Traum gewesen: Im Wassergraben hinter seinem Elternhaus in Rotterdam sei das Kreuzfahrtschiff Statendam mit seinen drei Schornsteinen vorbeigefahren. Später erzählte er seinem Vater von diesem Traum und erfuhr, dass es gar kein Traum gewesen war: »Die Statendam ist tatsächlich in di