Das Meer war an diesem Tag von einem schönen dunklen Blau. Wenn eine Woge sich aufbäumte und mit gischtigen Fingern nach der Brandung griff, entstand, kurz bevor sie zusammenbrach, ein wunderbares Grün direkt unter dem Scheitelpunkt der Welle. Erik Wolf zwang sich, immer wieder nach diesem Grün Ausschau zu halten. So konnte er sich dem Meer zuwenden und versuchen, das zu ignorieren, was hinter seinem Rücken geschah und wofür er sich am liebsten bei der kompletten Nordsee entschuldigt hätte.
Es war ein früher Sonntagmorgen. Die Hochsaison war vorbei, die Nachsaison brachte zwar noch viele sonnige Tage, aber sie begannen nicht mehr leuchtend blau, sondern grau und verhangen. Auch dieser Morgen hatte sich durch einen Dunstschleier ans Licht gedrängt, jetzt aber stand er in einem klaren Grauüber ihnen, das nicht weniger schön war als das Blau des Hochsommers. Deswegen war Erik bereit gewesen, seinen ersten freien Tag nach der Ankunft seiner Schwiegermutter auf Sylt mit einem Strandspaziergang zu beginnen. Mamma Carlotta hatte es sich gewünscht, und er war gern darauf eingegangen. Sogar die Kinder hatten sich bereit erklärt, ihrer Nonna zuliebe sonntags früh aufzustehen, und sich, ohne zu murren, ihre winddichten Jackenübergezogen.
Am Kliffkieker waren sie zum Strand hinabgestiegen und wanderten nun gen Norden. Erik liebte es, wenn der Strand noch menschenleer war. Er genoss die Stille, die in Wirklichkeit alles andere als still war, liebte das Getöse, mit dem die Brandung an den Strand schlug, denn still waren sie trotzdem, diese frühen Stunden am Meer, in denen nur die Natur lärmte und alles andere schwieg.
So jedenfalls hatte Erik sich diesen Spaziergang vorgestellt. Schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet oder in den Himmel, mal auf die Füße, um zu beobachten, wie sie sich in den Sand gruben, oder zurück, um die Spur zu verfolgen, die sich hinter ihnen aufreihte.
Die Strandspaziergänge, die er mit Lucia gemacht hatte, waren so gewesen. Seiner Frau war das Schweigen genauso schwergefallen wie ihrer Mutter, aber angesichts der Weite des Strandes und des Meeres war auch sie verstummt, hatte ihre Hand in seine geschoben und ihre Verbundenheit schweigend genossen. Damals hätte er es nie für möglich gehalten, dass einmal etwas so Zufälliges wie die kurze Unaufmerksamkeit eines Lkw-Fahrers ihre tiefe Verbundenheit zerstören könnte.
Er kniff die Augen fest zusammen, um Lucias Bild wegzudrängen. Schlimm genug, dass die Stimme in seinem Rücken ihn so sehr an Lucia erinnerte, dass es wehtat. Da half es gar nichts, dieÄhnlichkeit zu leugnen, nur weil Lucia in einem Moment wie diesem geschwiegen hätte.
»Il mare! Magnifico! Wie majestätisch!«
Noch immer wandte er sich nicht um, weil er sich nicht zusätzlich zur lauten Stimme, zum Pathos und zum Tempo, mit dem die Worte seiner Schwiegermutter von der Zunge rollten, auch nochüber ihre großen Gestenärgern wollte. Und auf keinen Fall wollte er Mamma Carlotta bewundern, obwohl es schon erstaunlich war,über welchen Wortschatz sie mittlerweile verfügte. Erst recht, wenn man berücksichtigte, auf welche Weise sie die deutsche Sprache erlernt hatte: ohne Lehrbuch, ohne Sprachtrainer, ohne Vokabelhefte oder das Lernen unregelmäßiger Verben. Carlotta Capella hatte Deutsch gelernt, indem sie mit Lucia und den Kindern am Telefon redete, und hatte ihre Sprachkenntnisse verbessert, als ihr Nachbar eine Deutsche heiratete, die sich gern in ihrer Muttersprache unterhielt.Über die Grammatik lernte sie erst etwas, als Carolin beschloss, Lehrerin zu werden, an ihrer Großmutter ihr späteres pädagogisches Wirken trainieren wollte und ihr viele schriftliche Aufgaben nach Umbrien schickte, deren Lösungen sie später am Telefon gewissenhaftüberprüfte.
Erik Wolf, der vierzehn Jahre jünger war als seine Schwiegermutter, war sicher, dass es ihm niemals gelungen wäre, auf gleiche Weise Italienisch zu lernen. Er konnte sich nur mühsam verständigen, wenn er in Umbrien war, obwohl Lucia sich große Mühe gegeben hatte, ihn mit ihrer Muttersprache vertraut zu machen, damit er sich mit den vielen Tanten, Onkeln, Cousins und all den anderen Mitgliedern des riesigen Capella-Clans unterhalten konnte. Er hatte es nicht geschafft. Und irgendwann war er sogar froh gewesen, dass er der Einzige war, dem es nachgesehen wurde, schweigend einer lautstarken Diskussion beizuwohnen, ohne sich einzumischen, oder einfach nur dabeizusitzen und an etwas anderes zu denken. Nach dieser Erkenntnis hatte er seine Bemühungen gänzlich eingestellt und war dankbar gewesen, dass niemand mehr versuchte, ihn in ein Gespräch zu ziehen, das ihn schon beim Zuschauen schwindelig machte.
»Dieser herrliche Strand!«, hörte er in seinem Rücken.»Ohne die vielen Strandkörbe gefällt er mir noch besser! Nur dieser graue Himmel! So etwas gibt es in Italia nicht. Und die Sonne …«
Erik hörte ein verächtliches Schnalzen. Bei allem, was Carlotta mittlerweile an Sylt liebengelernt hatte– mit der Dauer und der Kraft des Sonnenscheins war sie nie zufrieden.
»Carolina! Wird in deinem Chor auch ein Liedüber das Meer gesungen?«
Nein, nicht auch das noch! Seit Carolin dem Inselchor beigetreten war und daraufhin den Beschluss gefasst hatte, später Sängerin zu werden, gab es im Hause Wolf keine ruhige Minute mehr. Dabei war auf Carolins Einsilbigkeit bis dahin stets Verlass gewesen, sie war eben ganz Eriks Tochter. Es reichte, dass Felix genauso lärmend war wie seine italienischen Vorfahren und genauso gern und laut redete wie sie. Erik war immer dankbar gewesen, dass aus Carolins Zimmer selten ein Laut drang und dass sie stundenlang schweigend neben ihm sitzen konnte.
Neuerdings aber sang sie. Sehr laut, sehr enthusiastisch und vor allem den lieben langen Tag. Wenn er sich anfänglich nochüber die hübsche klare Stimme seiner Tochter gefreut hatte, so war es damit bald vorbei gewesen. Manchmal war er sogar drauf und dran, ihr zu verraten, wie wenig er daran glaubte, dass ihr Talent für eine Karriere ausreichte. Aber dann brachte er es doch nichtübers