: Alan Weisman
: Die Welt ohne uns Reise über eine unbevölkerte Erde
: Piper Verlag
: 9783492959933
: 1
: CHF 12.60
:
: Natur: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was wäre, wenn wir Menschen von einem Tag auf den anderen verschwinden würden? Zum Beispiel morgen. Ein ungeheures Gedankenexperiment! Alan Weisman entwirft das Szenario einer unbevölkerten Erde - gestützt auf das Wissen von Biologen, Geologen, Physikern, Architekten und Ingenieuren und mit atemberaubender Phantasie. Schritt für Schritt vollzieht Weisman nach, wie die Natur unseren Planeten zurückerobert, und führt dem Leser dabei zweierlei vor Augen: was der Mensch in Jahrtausenden zu schaffen vermochte und über welch unerhörte Macht die Natur verfügt.

Alan Weisman ist Autor des Weltbestsellers »Die Welt ohne uns« (Piper 2007), vielfach ausgezeichneter Journalist und Professor für internationalen Journalismus an der University of Arizona. Für seine großen Reportagen bereist er die ganze Welt. Er berichtet unter anderem für Harper`s, das New York Times Magazine und das Discover Magazine. Er lebt mit seiner Frau im Bundesstaat Massachusetts.

Vorspiel

Eines Junimorgens im Jahre 2004 saß Ana María Santi gegen den Pfahl einer ausladendenÜberdachung aus Palmblättern gelehnt. Sie betrachtete missbilligend eine Ansammlung ihrer Nachbarn und Freunde– der Bewohner des Dorfes Mazáraka am Río Conambu, einem Nebenfluss des Amazonas in Ecuador. Vom Haar abgesehen, das auch nach siebzig Jahren noch dick und schwarz war, erinnerten Ana Marías Züge ansonsten an eine vertrocknete Hülsenfrucht. Ihre grauen Augen blickten bleich aus den tiefen Runzeln ihres Gesichts. In einem Dialekt, der eine Mischung aus Kichwa und Zápara, einer fast untergegangenen Sprache, war, schalt sie ihre Nichten und Enkelinnen. Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung waren diese Frauen wie alle anderen Einwohner des Dorfes, mit Ausnahme von Ana María, längst betrunken.

Der Anlass war einminga, Amazoniens Spielart des Scheunenbaus. Vierzig barfüßige Zápara-Indianer, etliche mit bemalten Gesichtern, saßen in einem dichten Kreis auf Bänken aus Baumstämmen. Um sich in die richtige Stimmung zu bringen, hinaus in den Wald zu gehen, ihn zu roden und niederzubrennen, damit Ana Marías Bruder ein neues Maniokfeld anlegen konnte, schütteten sie literweisechicha in sich hinein. Sogar die Kinder schlürften das milchige, saure Bier aus Maniokbrei, das mit dem Speichel der Zápara-Frauen gegoren wird, weshalb sie den ganzen Tag die Knollen kauen. Zwei Mädchen, die sich Gräser ins Haar geflochten hatten, drängten sich durch die Menge, füllten die Chicha-Becher auf und gaben Schalen mit Welssuppe aus. DenÄlteren und den Gästen servierten sie große Stücke gekochtes Fleisch, dunkel wie Schokolade. Doch Ana María Santi, dieÄlteste der Anwesenden, aß nichts davon.

Während der Rest der Menschheit mit großen Schritten ins neue Jahrtausend stürmte, waren die Zápara noch kaum in der Steinzeit angekommen. Wie die Klammeraffen, die sie als ihre Ahnen ansahen, nutzten die Zápara die Bäume als Lebensraum: Mit Lianen banden sie Palmstämme zusammen, die Dächer aus geflochtenen Palmwedeln trugen. Bis zur Einführung des Manioks waren Palmherzen ihr wichtigstes Gemüse gewesen. Ihren Eiweißbedarf deckten sie, indem sie mit Netzen auf Fischfang gingen oder Tapire, Nabelschweine, Wachteln und Hokkos, eine südamerikanische Vogelart, mit Bambuspfeilen und Blasrohren jagten.

Das tun sie auch heute noch, doch gibt es kaum noch Wild. Als Ana Marías Großeltern jung waren, sagt sie, habe der Wald sie mühelos ernährt, obwohl die Zápara damals einer der größten Stämme im Amazonasgebiet waren. Rund 200000 Stammesmitglieder lebten in Dörfern an den benachbarten Flüssen. Dann geschah etwas in einem fernen Land und nichts in ihrer Welt– oder der irgendeines anderen Menschen– war mehr wie vorher.

Henry Ford hatte mit der Erfindung des Fließbands die Massenproduktion von Automobilen möglich gemacht und damit die Nachfrage nach luftgefüllten Schläuchen und Reifen derart angekurbelt, dass profitorientierte Weiße jeden schiffbaren Strom Amazoniens auf der Suche nach Gummibäumen und potenziellen Arbeitskräften befuhren. In Ecuador halfen ihnen dabei die Hochland-Kichwas, die einst von spanischen Missionaren bekehrt worden waren und nun die heidnischen Zápara aus der Tiefebene an Bäume ketteten und zur Arbeit zwangen, bis sie an Erschöpfung starben, während sie die Zápara-Frauen und -Mädchen wie Vieh behandelten, vergewaltigten und ermordeten.

In den 1920er Jahren richteten neue Gummiplantagen in Südostasien den Markt für den wilden Kautschuksaft aus Südamerika zugrunde. Die wenigen Hundert Zápara, denen es gelungen war, sich während des Völkermords zu verstecken, blieben in ihren Schlupfwinkeln. Einige gaben sich als Kichwas aus und lebten unter den Feinden, die nun ihr Land besetzt hatten. Andere flüchteten nach Peru. Ecuadors Zápara galten offiziell als ausgestorben. Nachdem Peru und Ecuador 1999 lange währende Grenzstreitigkeiten beigelegt hatten, stieß man auf einen peruanischen Zápara-Medizinmann, der im Dschungel Ecuadors unterwegs war. Er sei hier, sagte er, um endlich seine Verwandten wiederzusehen.

Die wiederentdeckten Zápara Ecuadors wurden eine anthropologische Sensation. Der Staat erkannte ihre territorialen Rechte an, auch wenn diese nur noch einen winzigen Bruchteil ihrer einstigen Gebiete betrafen, und die UNESCO unterstützte die Wiederbelebung ihrer Kultur und die Rettung ihrer Sprache. Damals wurde sie nur noch von vier Menschen gesprochen, unter ihnen auch Ana María Santi. Der Wald, wie sie ihn einst gekannt hatten, war weitgehend vernichtet: Von ihren Unterdrückern, den Kichwas, hatten sie gelernt, Bäume mit Macheten zu fällen und die Stümpfe zu verbrennen, um Maniok anzubauen. Nach jeder Ernte müssen die Felder mehrere Jahre brachliegen. So weit das Auge reicht, wird dann das hohe Blätterdach der Maniokpflanzen von dürrem Zweitwuchs in Gestalt von Lorbeer, Magnolien und Palmen verdrängt. Maniok war jetzt ihre wichtigste Erntefrucht und wurde den ganzen Tag in Form vonchicha konsumiert. Aber die Zápara hattenüberlebt und waren im 21. Jahrhundert angekommen. Zw