Kapitel 1
Angefangen hatte alles irgendwann in den Sommerferien. Zum erstenmal war es uns gelungen, den auf fünf Köpfe angewachsenen Nachwuchs über die Verwandtschaft zu verteilen, und wir beiden Daheimgebliebenen freuten uns auf eine ruhige Zeit ohne Überfälle von Jugendlichen, die den Kühlschrank leer fraßen und das Haus als Schlachtfeld hinterließen. Nach einer Woche ging Rolf jedoch die ungewohnte Stille dermaßen auf die Nerven, daß er kurzerhand einen Freund anrief und mit ihm einen Angelurlaub an einem österreichischen See verabredete. Der Form halber wurde ich zum Mitkommen aufgefordert, aber nach meiner Ansicht gibt es nur eine Tätigkeit, die noch langweiliger ist als Angeln: Zugucken.
»Mußt du ja gar nicht«, sagte mein Ehemann, »du kannst dich durchaus nützlich machen. Köder suchen, Fische schuppen …«
Ich lehnte dankend ab und war froh, als er samt geliehener Angelrute, Gummistiefeln und zusammenklappbarem Campinghocker ins Auto stieg. Mich erschütterte nicht einmal die Aussicht, in nächster Zeit nur auf meine Beine angewiesen zu sein. Spazierengehen ist gesund, außerdem wollte ich meine Taillenweite um mindestens zwei Zentimeter reduzieren und mich vorwiegend von Obst und Joghurt ernähren, das wiegt nicht viel, das kann man im Einkaufsnetz nach Hause tragen. Ansonsten wollte ich ganz einfach mal so richtig faulenzen, in der Sonne liegen, endlich die Bücher lesen, die ich vor anderthalb Jahren zu Weihnachten bekommen hatte, und es genießen, eine Zeitlang keine wie auch immer gearteten Verpflichtungen zu haben.
Nur hatte ich nicht voraussehen können, daß jenes Jahr in die Annalen der meteorologischen Geschichte als ein Sommer eingehen würde, der sich auf drei Tage im Mai und sieben Tage im Juli beschränkte. Es regnete pausenlos. Und wenn es wirklich mal aufhörte, war es kalt. Frierend stand ich am Fenster und starrte auf die tropfenden Terrassenmöbel. In Österreich schiene die Sonne, hatte Rolf am Telefon gesagt, und ob ich nicht doch noch nachkommen wollte? Nein, nun gerade nicht!
»Du hast mich mit deinem Anruf aus dem Liegestuhl gescheucht, und ich denke nicht daran, ihn in die Ecke zu stellen, um Regenwürmer auf Angelhaken zu spießen. Petri Heil!« Der Hörer flog auf die Gabel zurück, und ich schloß das Fenster, weil es reinregnete. Innerlich knirschte ich mit den Zähnen.
Die beinahe täglich eintrudelnden Urlaubsgrüße aus exotischen Gegenden trugen auch nicht zur Stimmungsförderung bei. Woran liegt es bloß, daß einem Bekannte, die man das ganze Jahr über kaum sieht, plötzlich vom anderen Ende der Welt schreiben, wie sehr sie es bedauern, daß man nicht mit ihnen dort sein kann? Wahre Freunde schicken einem keine Karte von den sonnigen Seychellen!
Um es genau zu sagen: Ich langweilte mich erbärmlich! Die Schränke hatte ich schon aufgeräumt, alle Fensterbrettblumen umgetopft, Kontoauszüge abgeheftet und sogar die letzten Ostergrüße der Verwandtschaft beantwortet. Es gab wirklich nichts mehr zu tun. Allenfalls konnte ich noch die Fotos sortieren und einkleben, die mir beim Herumstöbern in die Hände gefallen ware