: Stefan Zweig
: Scharlach (Fischer Klassik PLUS)
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104023663
: Fischer Klassik Plus
: 1
: CHF 2.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 70
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Sehr erfreut. Jurist Schramek.« Der forsche, wenn auch oberflächliche Zimmernachbar scheint »das neue Leben« zu verheißen, das sich Bertold Berger in Wien imaginiert hat, doch der Medizinstudent versucht vergeblich, in Schrameks maskuline Welt der schlagenden Verbindungen zu passen. Fast scheint er an seiner Melancholie zu scheitern, da erkrankt die Tochter seiner Hauswirtin an Scharlach. Er entdeckt nicht nur die Liebe zum Arztberuf. Doch ist das »das neue Leben«? In seinen Erzählungen spürt Stefan Zweig mit psychologischem Feingefühl den geheimen Wünschen und Leidenschaften seiner Figuren und auch den Fallstricken der Wirklichkeit nach.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Scharlach


In der Josefstadt, hatten ihm die Freunde zu Hause gesagt, solle er sich ein Zimmer nehmen, wenn er nach Wien ginge. Das sei nahe der Universität und alle Studenten wohnten dort gerne, weil es ein stiller, ein wenig altväterischer Bezirk sei und dann, weil es schon durch Tradition ihr Hauptquartier geworden war. So hatte er sich also gleich von der Bahn, wo er das Gepäck vorläufig ließ, durchgefragt, war hingegangen durch die vielen fremden lauten Gassen, vorbei an all den hastigen Menschen, die wie gejagt durch den Regen liefen und ihm nur unwillig Auskunft gaben.

Das Herbstwetter war unerbittlich. Unablässig plätscherte ein spitzer nasser Schauer nieder, schwemmte von den falben Bäumen das letzte zitternde Laub, trommelte von allen Traufen und zerriß den melancholischen Himmel in Millionen grauer Fasern. Der Wind warf manchmal den Regen wie ein flatterndes Tuch vor sich her, schleuderte ihn gegen die Wände, daß es nur so prasselte und zerbrach den Leuten die Schirme. Bald waren auf der Straße nur mehr die holpernden schwarzen Wagen mit den dampfenden Pferden zu sehen und hie und da ein paar fliegende Schatten von Vorüberrennenden.

Der junge Student ging von Haus zu Haus, stieg viele Treppen auf und nieder, froh, für ein paar Augenblicke dem bösartigen Regen zu entkommen. Er sah viele Zimmer, aber keines konnte ihm behagen. Daran war vielleicht der Regen schuld und das kalte graue Licht, das alle Räume bedrückt erscheinen ließ und sie anfüllte mit kränklicher gepreßter Luft. Ein leise beengtes Gefühl wurde in ihm wach, als er das Elend und die Unreinlichkeit mancher Quartiere sah, zu denen er auf krummen feuchten Treppen hinaufkroch, irgendwie eine erste Ahnung der großen Traurigkeiten, die hinter der Stirne dieser kleinen gebückten, abgeschabten Vorstadthäuser sich verbergen. Immer mutloser wurde sein Suchen.

Endlich traf er seine Wahl. Es war in der Josefstadt oben, nicht mehr weit vom Gürtel, in einem recht alten, aber schwerfällig breiten Hause von altbürgerlicher Behaglichkeit, wo er Quartier nahm. Das Zimmer war einfach und eigentlich kleiner, als er gewünscht hatte, aber die Fenster gingen in einen großen Hof hinaus, in einen jener alten Vorstadthöfe, wo ein paar Bäume standen, jetzt rauschend im Regen und leise fröstelnd. Dieses letzte zage Grün, die ganz verlorene Erinnerung an die Gärten seiner Heimat, lockte ihn an und dann, daß im Vorzimmer, als er die Glocke zog, ein Kanarienvogel in seinem Gehäuse zu trillern anfing und nicht müde wurde seiner Koloraturen, solang er das Zimmer besah. Das schien ihm ein gutes Vorzeichen, und auch die Vermieterin gefiel ihm, eine ältere verhärmte Frau, Beamtenswitwe, wie sie erzählte. Sie selbst bewohnte nur ein armseliges Kabinett mit ihrer kleinen Tochter, nebenan hatte noch ein anderer Student sein Zimmer, dessen Anwesenheit schon die Visitkarte an der Eingangstür verriet.

In den paar Stunden, die bis Abend blieben, wollte er noch eilig etwas sehen von der fremden, seit tausend Tagen herbeigesehnten Stadt, aber der kalte, vom Wind aufgepeitschte Regen vertrieb ihm bald das Gelüst. Er trat in ein Kaffeehaus, sah dann lange gedankenlos zu, wie der weiße Ball am Billardbrett dem roten nachlief, hörte das Gespräch von vielen fremden Menschen rings um sich herum und mühte sich, das bittere Gefühl der Enttäuschung niederzuringen, das langsam in seiner Kehle aufquoll und Worte wollte. Noch einmal versuchte er dann über die Straßen zu streifen, aber der Regen war zu hartnäckig. Triefend und durchnäßt ging er in ein Gasthaus, ein Abendbrot rasch und ohne Lust zu nehmen, und dann n