: Joe Simpson
: Sturz ins Leere Ein Überlebenskampf in den Anden
: Piper Verlag
: 9783492954464
: 1
: CHF 14.40
:
: Südamerika
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die beiden jungen Bergsteiger Joe Simpson und Simon Yates brechen auf, um den Andengipfel Siula Grande über die bisher unbezwungene Westwand zu besteigen. Bei einem Sturz im Abstieg wird Simpsons Knie zerschmettert. Sein Seilpartner setzt alles daran, das Leben seines Gefährten zu retten, und seilt ihn bei extrem schlechten Wetterbedingungen ohne Selbstsicherung ab. Doch Simpson rutscht ab und hängt mit einem Mal über dem gähnenden Abgrund einer Gletscherspalte. Um nicht selbst mit in die Tiefe gerissen zu werden, muss Yates das Seil kappen, das die beiden verbindet. Wie durch ein Wunder entgeht Simpson dem sicheren Tod. Nun beginnt für ihn der Kampf ums Überleben, während Yates in der Einsamkeit mit seinem Gewissen ringt ...

Geboren 1960 in Kuala Lumpur, wußte schon mit vierzehn Jahren, was einmal sein Leben bestimmen würde: Bergsteigen und Schreiben. Er studierte Englisch und Philosophie, bevor er sich hauptberuflich dem Alpinismus widmete. Seine unglaubliche Überlebensgeschichte »Sturz ins Leere« wurde weltweit zum Bestseller und verfilmt, sie machte ihn zur lebenden Legende. Simpson, nach wie vor eine der interessantesten Figuren der Bergsteigerszene, lebt in der Nähe von Sheffield und in Irland.

1   Unter den Bergseen


Ich lag in meinem Schlafsack und starrte hinauf in das Licht, das durch das rot-grüne Gewebe des Kuppelzeltes drang. Simon schnarchte laut und zuckte gelegentlich im Schlaf. Wir hättenüberall sein können. Ein Zelt hat immer etwas Anonymes an sich. Sobald man den Reißverschluss zugezogen hat und die Welt um sich herum nicht mehr sieht, verschwindet auch jeglicher Ortssinn. Ob in Schottland, in den französischen Alpen oder im Karakorum– es ist immer dasselbe: Das Geräusch des Regens oder der raschelnden Zeltplanen im Wind, der harte Boden unter der Isomatte, der Gestank nach Socken und Schweiß– all das istüberall gleich und ebenso tröstlich wie die Wärme des Daunenschlafsacks.

Draußen wurde es hell, und die erste Morgensonne berührte wahrscheinlich schon die Gipfel. Vielleicht schraubte sichüber dem Zelt sogar ein Kondor hinauf in die Lüfte. Ganz so abwegig war die Vorstellung nicht, denn ich hatte gestern Nachmittag einenüber unserem Lagerplatz kreisen sehen. Wir befanden uns mitten in der Cordillera Huayhuash in den peruanischen Anden, fast fünfzig Kilometer Fußmarsch vom nächsten Dorf entfernt, umringt von den spektakulärsten Eisgipfeln, die ich jemals gesehen hatte. Von hier aus, im Zelt, deutete jedoch nichts auf all das hin– außer dem regelmäßigen Donnern der am Cerro Sarapo abgehenden Lawinen.

Ich fühlte mich wohl und geborgen in der Wärme und Sicherheit des Zeltes und schälte mich daher auch nur widerwillig aus meinem Schlafsack, um den Kocher anzuwerfen. In der Nacht hatte es etwas Neuschnee gegeben, und das gefrorene Gras unter meinen Füßen knirschte, als ich zu unserem Küchenfelsen hinübertrottete. In Richards winzigem Einmannzelt, das halb eingedrückt und mit Raureifüberzogen war, schien sich noch nichts zu rühren.

Ich kauerte mich in den Windschatten des riesigenüberhängenden Felsblocks, den wir zur Kochstelle erklärt hatten, und genoss die Ruhe und Einsamkeit des Augenblicks. Der Kocher, mit dem ich herumhantierte, sträubte sich hartnäckig gegen die widrigen Temperaturen und das rostige Benzin, mit dem ich ihn befüllt hatte. Alles gute Zureden war umsonst, und so blieb mir nichts anderesübrig, als rohe Gewalt anzuwenden und ihn auf einen voll aufgedrehten Propangaskocher zu setzen. Jetzt erwachte er mit einem Mal zum Leben und spie launisch und empörtüber das verdreckte Benzin mehr als einen halben Meter hohe Flammen.

Während das Wasser im Topf langsam heiß wurde, ließ ich meinen Blicküber das breite, von Felsblöckenübersäte ausgetrocknete Flussbett schweifen. Der einzeln stehende Block, bei dem ich hockte und der unseren Lagerplatz markierte, war außer bei extrem schlechtem Wetter weithin sichtbar. Direkt hinter dem Lager, keine drei Kilometer entfernt, ragte eine gewaltige, fast senkrechte Wand aus Eis und Schnee zum Gipfel des Cerro Sarapo empor. Aus dem Meer von Moränen zu meiner Linken erhoben sich zwei spektakuläre, gigantische Paläste aus Zuckerguss, der Yerupaja und der Rasac. Der majestätische, fast 6400 Meter hohe Siula Grande lag hinter dem Sarapo und war somit von hier aus nicht zu sehen. Er war im Jahr 1936 von zwei wagemutigen Deutschenüber den Nordgrat erstbestiegen worden. Seitdem hatte es nur wenige weitere Begehungen gegeben, und seine abschreckende, fast 1400 Meter hohe Westwand hatte sämtlichen bisherigen Versuchen getrotzt.

Ich drehte den Kocher aus und goss das Wasser vorsichtig in drei große Becher. Noch war die Sonne nicht hinter dem gegenüberliegenden Gebirgskamm hervorgekommen, und im Schatten war es empfindlich kalt.

»Ich hätte hier einen heißen Tee für dich– falls duüberhaupt noch lebst da drin!«, verkündete ich gut gelaunt.

Ich trat ein paarmal gegen Richards Zelt, um es vom Reif zu befreien. Schließlich kam Richard herausgekrochen. Man sah ihm an, dass er eine unbequeme, eisige Nacht hinter sich hatte. Wortlos und mit einer Rolle Klopapier unter dem Arm stapfte er zum Flussbett hinunter.

»Fühlst du dich immer noch so elend?«, fragte ich ihn, als er zurückkam.

»So ganz auf der Höhe bin ich noch nicht, aber das Schlimmste habe ich hinter mir, glaube ich. Diese Nacht war es verdammt kalt.«

Ich war mir nicht sicher, ob es nicht doch eher die dünne Luft hier oben als der Bohneneintopf war, was ihm so zu schaffen machte. Immerhin hatten wir unsere Zelte auf einer Höhe von mehr als viereinhalbtausend Metern aufgeschlagen, und Richard war kein Bergsteiger.

Simon und ich hatten Richard in einem schäbigen Hotel in Lima kennengelernt, wo er nach der Hälfte seiner sechsmonatigen Südamerika-Tour gerade eine Weile Rast machte. Hinter seiner Drahtgestellbrille, der ordentlichen, zweckmäßigen Kleidung und seiner vogelähnlichen Art verbargen sich ein trockener Humor und ein schier unerschöpfliches Repertoire abenteuerlichster Reiseerlebnisse. Richard hatte sich von Maden und Beeren ernährt, während er mit Pygmäen im Einbaum durch die Regenwälder von Zaire gepaddelt war, hatte mitan