: Liao Yiwu
: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Chinas Gesellschaft von unten
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104010793
: 1
: CHF 10.00
:
: Asien
: German
: 544
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In China verboten: Einzigartige Gespräche mit den Verstoßenen und Vergessenen der chinesischen Gesellschaft Eine Prostituierte, ein buddhistischer Abt und der Manager einer öffentlichen Bedürfnisanstalt, ein Falun-Gong-Anhänger, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister - sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas und selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt. Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen - ein China der Ausgestoßenen, der Heimat- und Obdachlosen, der Bettler und Straßenmusiker, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

Zur Einführung

Die Stimme der gesellschaftlichen Außenseiter Chinas


Als die chinesische Regierung in der Nacht vom 3. Juni 1989 in Peking Panzer einrollen ließ und die Demokratie-Bewegung der Studenten brutal niederschlug, war Liao Yiwu zu Hause, im Südwesten der Provinz -Sichuan. Die Nachrichten erschütterten ihn in den Grundfesten. Über Nacht verfasste Liao ein langes Gedicht mit dem Titel »Massaker« und schilderte in drastischen Bildern die Ermordung unschuldiger Studenten und Bürger, und das so lebendig wie Picasso die Bombardierung von Guernica durch die Nazis.

Ohne Möglichkeit, sein Gedicht in China zu veröffentlichen, sprach Liao Yiwu den Text mit rituellen Gesängen und der heulenden Anrufung des Geistes der Toten auf Band. Die Aufnahme wurde durch Untergrundkanäle in ganz China verbreitet. In einem weiteren Gedicht aus der gleichen Zeit beschreibt er die Frustration, sich nicht wehren zu können:

Du bist geboren mit der Seele eines Attentäters,

Aber wenn es Zeit ist für die Tat,

Bist du verloren, tust nichts.

Du hast kein Schwert zu ziehen,

Dein Körper, die Schwertscheide, ist verrostet,

Deine Hände zittern,

Deine Knochen faulen,

Deine kurzsichtigen Augen taugen nicht für den Schuss.

Das Band mit dem Gedicht »Massaker« und der Film »Requiem«, den er anschließend mit Freunden drehte, riefen die chinesische Sicherheitspolizei auf den Plan. Als er im Februar 1990 einen Zug nach Peking bestieg, fiel sie über ihn her. Sechs seiner Freunde, Dichter und Schriftsteller, und seine schwangere Frau wurden wegen ihrer Beteiligung an seinem Filmprojekt zur gleichen Zeit verhaftet, als Rädelsführer bekam Liao vier Jahre Gefängnis.

Seither steht Liao auf der schwarzen Liste der Regierung. Die meisten seiner Werke sind in China noch immer verboten, wo er unter den wachsamen Augen des Amtes für Öffentliche Sicherheit als Straßenmusiker in einer kleinen Stadt im Südwesten der Provinz Yunnan lebt. In der Vergangenheit wurde er mehrere Male wegen »illegaler Interviews« und der Darstellung der dunklen Seiten der kommunistischen Gesellschaft in seinem dokumentarischen Buch »Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« verhaftet. Die neunundzwanzig Geschichten, die in diesem Buch erscheinen, wurden aus dieser Sammlung wie aus neueren Texten von chinesischen Webseiten außerhalb Chinas ausgewählt und übersetzt.

Liao ist 1958 im Jahr des Hundes geboren. Es war auch das Jahr, in dem Mao Zedong den Großen Sprung nach vorn initiierte, eine Kampagne, die Chinas rückständige Agrarwirtschaft industrialisieren sollte. Die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft und die blinde Mobilisierung des Landes zur primitiven Produktion von Eisen und Stahl führte 1960 zu einer Hungersnot, die geschätzte 30 Millionen Menschen das Leben kostete.

Während der Hungersnot litt Liao unter einem Ödem und war dem Tode nah. In ihrer Verzweiflung schaffte seine Mutter ihn aufs Land, wo ein Doktor der Naturheilkunde »mich über einen Wok hielt, in dem ein Kräutersud kochte«. Wie durch ein Wunder machte dieses Dampfbad ihn gesund.

1966 wurde Liaos Familie tief traumatisiert, als sein Vater, ein Lehrer, während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär gebrandmarkt wurde. Seine Eltern ließen sich scheiden, um ihre Kinder vor den Auswirkungen dieses Paria-Status des Vaters zu schützen. Das Leben ohne den Vater war hart. Unter seinen Kindheitserinnerungen ist eine, an die er sich noch heute lebhaft erinnert: »Ein Verwandter gab meiner Mutter einen offiziellen Bezugsschein für zwei Meter Stoff. Aber als meine Mutter ihn auf dem Schwarzmarkt verka