Weisheit und Klugheit
«Durch Schaden wird man klug.»
Eine Zweijährige, die einen heißen Grillrost anfasst, wird ihre Hand ruckartig zurückziehen, noch ehe sie den Schmerz wahrnimmt und «Aua!» schreit. Denn die Hand erhält vom Rückenmark blitzartig den Befehl, sich vom Rost zu heben, um Schlimmeres als gerötete Haut oder ein Brandbläschen zu verhindern. Mediziner nennen diese noch unbewusste erste Stufe der Reaktion nicht umsonst Schutzreflex. Denn kein Mensch muss das, was vor sich geht, bereits genau verstehen, während seine Finger gerade verkokeln.
Klüger aus dem Schaden kann das Kind erst im Gehirn werden. Dort erreicht der Schmerzreiz über Nervenbahnen des Rückenmarks den Thalamus, der den größten Teil des Zwischenhirns einnimmt. Er gilt als Tor oder Pförtner zum Bewusstsein und entscheidet darüber, ob ein Warnsignal für den Organismus bedeutsam ist. Kein Mensch will ständig von Drucksensoren in den Füßen darüber informiert werden, dass er Schuhe trägt. Falls der Thalamus den Schmerzreiz für wichtig hält, wird dieser im nahe gelegenen limbischen System emotional bewertet – im Falle des glühenden Grillrostes als gesundheitsschädlich und künftig zu meiden. Erst die eng mit dem Thalamus verbundene Großhirnrinde macht uns den Schmerz bewusst und erfasst, wo und wie er entstanden ist: nämlich an der Handfläche beziehungsweise durch Anfassen der heißen Metallstäbe.
Das Beispiel mit dem heißen Grill und dem verbrannten Finger erweckt den Eindruck, als sei es sehr simpel, aus einem Schaden die richtigen Schlüsse zu ziehen und den begangenen Fehler künftig zu vermeiden. Doch dazu müssen wir Ursache und Wirkung durchschauen können, und das ist nicht immer leicht. Nehmen wir nur die schleichenden Gefahren – womit keine Raubkatzen gemeint sind, sondern Unheil, das unmerklich eintritt. Zum Beispiel wandelt sich die durchschnittliche Temperatur der Erdatmosphäre für uns nicht wahrnehmbar in Hundertstel-Grad-Schrittchen über Jahre hinweg, und weltweit gehen ähnlich unspektakulär fruchtbare Ackerböden und Wälder verloren oder sterben Tier- und Pflanzenarten aus. Für solche Vorgänge sind unsere Sinne nicht gemacht. Wer Artenschwund und Klimawandel glauben und dann selber dagegen angehen will, muss deshalb Fachleuten und ihren Messdaten vertrauen. Und nicht nur das: Der Betreffende muss außerdem seine Lebensweise verändern, ohne rasche (oder überhaupt) Erfolge zu sehen. Entsprechend schwer fällt es uns, aus all den alarmierenden Berichten über die Umweltfolgen unseres Lebens und Wirtschaftens etwas zu lernen.
Darüber hinaus wird unser Lernerfolg aus erlittenem Schaden dadurch behindert, dass wir das Ungemach leugnen können, solange es geht. Oder wir machen andere Ursachen dafür verantwortlich. Glücksspieler zum Beispiel schieben die Schuld für ihre Verluste am Roulettetisch gerne auf ein «ungünstiges Horoskop» oder hatten «halt einfach Pech». Zum Schaden gesellt sich demnach mangelnde Einsicht, verschärft durch eingefleischte Gewohnheiten oder gar Süchte. Herzkranke etwa, deren Infarkte oder Gefäßengpässe durch Rauche