: Walter Schmidt
: Morgenstund ist ungesund Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644466111
: 1
: CHF 9.00
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: Sprache: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ob wir sie mögen oder nicht: Viele Sprichwörter haben sich uns derart eingeprägt, dass wir bei jeder passenden Gelegenheit automatisch an sie denken müssen. Und das, obwohl sie oft genug ein wenig altbacken klingen. Walter Schmidt klopft einige der bekanntesten Lebensweisheiten auf ihren sachlichen Gehalt ab und denkt darüber nach, ob sie uns noch Orientierung bieten können. Die Zeit heilt alle Wunden? Mediziner und Psychologen können bestätigen, dass dies längst nicht immer der Fall ist. Jeder ist seines Glückes Schmied? Die soziale Mobilität in unserer Gesellschaft spricht eine andere Sprache. Warum ist aller Anfang schwer? Dazu können Motivationspsychologen Erhellendes sagen. Gelegenheit macht Diebe? Das wissen Polizei und Rechtsexperten am besten. Morgenstund hat Gold im Mund? Schlafforscher sind sich da nicht so sicher. Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter? Auf unser Immunsystem trifft das nur bedingt zu. «Walter Schmidts Analysen eröffnen einen neuen Zugang zur Welt der alltäglichen Sprichwörter.» Frankfurter Rundschau «Ebenso fachkundig wie kurzweilig.» Märkische Allgemeine «Die unterhaltsame Lektüre birgt so überraschende wie lehrreiche und lebensnahe Einsichten.» Deutschlandfunk

Walter Schmidt war freier Journalist, Schreibtrainer und Texter. Nach seinem Geographie-Studium in Saarbrücken und Vancouver besuchte er die Henri-Nannen-Schule und arbeitete u.a. als Pressesprecher für den BUND. 2011 erschien sein Buch «Dicker Hals und kalte Füße. Was Redensarten über Körper und Seele verraten. Eine heitere Einführung in die Psychosomatik», für das er den Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit erhielt. Walter Schmidt verstarb 2016.

Weisheit und Klugheit


«Durch Schaden wird man klug.»


Eine Zweijährige, die einen heißen Grillrost anfasst, wird ihre Hand ruckartig zurückziehen, noch ehe sie den Schmerz wahrnimmt und «Aua!» schreit. Denn die Hand erhält vom Rückenmark blitzartig den Befehl, sich vom Rost zu heben, um Schlimmeres als gerötete Haut oder ein Brandbläschen zu verhindern. Mediziner nennen diese noch unbewusste erste Stufe der Reaktion nicht umsonst Schutzreflex. Denn kein Mensch muss das, was vor sich geht, bereits genau verstehen, während seine Finger gerade verkokeln.

Klüger aus dem Schaden kann das Kind erst im Gehirn werden. Dort erreicht der Schmerzreiz über Nervenbahnen des Rückenmarks den Thalamus, der den größten Teil des Zwischenhirns einnimmt. Er gilt als Tor oder Pförtner zum Bewusstsein und entscheidet darüber, ob ein Warnsignal für den Organismus bedeutsam ist. Kein Mensch will ständig von Drucksensoren in den Füßen darüber informiert werden, dass er Schuhe trägt. Falls der Thalamus den Schmerzreiz für wichtig hält, wird dieser im nahe gelegenen limbischen System emotional bewertet – im Falle des glühenden Grillrostes als gesundheitsschädlich und künftig zu meiden. Erst die eng mit dem Thalamus verbundene Großhirnrinde macht uns den Schmerz bewusst und erfasst, wo und wie er entstanden ist: nämlich an der Handfläche beziehungsweise durch Anfassen der heißen Metallstäbe.

Das Beispiel mit dem heißen Grill und dem verbrannten Finger erweckt den Eindruck, als sei es sehr simpel, aus einem Schaden die richtigen Schlüsse zu ziehen und den begangenen Fehler künftig zu vermeiden. Doch dazu müssen wir Ursache und Wirkung durchschauen können, und das ist nicht immer leicht. Nehmen wir nur die schleichenden Gefahren – womit keine Raubkatzen gemeint sind, sondern Unheil, das unmerklich eintritt. Zum Beispiel wandelt sich die durchschnittliche Temperatur der Erdatmosphäre für uns nicht wahrnehmbar in Hundertstel-Grad-Schrittchen über Jahre hinweg, und weltweit gehen ähnlich unspektakulär fruchtbare Ackerböden und Wälder verloren oder sterben Tier- und Pflanzenarten aus. Für solche Vorgänge sind unsere Sinne nicht gemacht. Wer Artenschwund und Klimawandel glauben und dann selber dagegen angehen will, muss deshalb Fachleuten und ihren Messdaten vertrauen. Und nicht nur das: Der Betreffende muss außerdem seine Lebensweise verändern, ohne rasche (oder überhaupt) Erfolge zu sehen. Entsprechend schwer fällt es uns, aus all den alarmierenden Berichten über die Umweltfolgen unseres Lebens und Wirtschaftens etwas zu lernen.

Darüber hinaus wird unser Lernerfolg aus erlittenem Schaden dadurch behindert, dass wir das Ungemach leugnen können, solange es geht. Oder wir machen andere Ursachen dafür verantwortlich. Glücksspieler zum Beispiel schieben die Schuld für ihre Verluste am Roulettetisch gerne auf ein «ungünstiges Horoskop» oder hatten «halt einfach Pech». Zum Schaden gesellt sich demnach mangelnde Einsicht, verschärft durch eingefleischte Gewohnheiten oder gar Süchte. Herzkranke etwa, deren Infarkte oder Gefäßengpässe durch Rauche