: Paul Auster
: Die New-York-Trilogie Stadt aus Glas / Schlagschatten / Hinter verschlossenen Türen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644460416
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jeder der drei Romane der «New-York-Trilogie» wirkt zunächst wie eine klassische, spannungsgeladene Kriminalgeschichte. Alle drei ziehen den Leser mit raffiniert ausgelegten «Ködern» in ihren Bann. Aber bald scheinen die vordergründig logischen Zusammenhänge nicht mehr zu stimmen. Täter werden auf rätselhafte Weise zu Opfern, Verfolger zu Verfolgten. Schritt für Schritt wird auch der unabhängige Beobachter, ob Leser oder Detektiv, in ein Spiel mit seinen eigenen Erwartungen verstrickt. Paul Austers drei große New-York-Romane in einem Band. «Eine literarische Sensation.» (Sunday Times)

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

Stadt aus Glas


Erstes Kapitel


Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später. Am Anfang waren einfach nur das Ereignis und seine Folgen. Ob es anders hätte ausgehen können oder ob mit dem ersten Wort aus dem Mund des Fremden alles vorausbestimmt war, ist nicht das Problem. Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.

Mit Quinn brauchen wir uns kaum aufzuhalten. Wer er war, woher er kam und was er tat, ist nicht so wichtig. Wir wissen zum Beispiel, dass er fünfunddreißig war. Wir wissen, dass er einmal verheiratet und Vater gewesen war und dass nun beide tot waren, seine Frau und sein Sohn. Wir wissen auch, dass er Bücher schrieb. Um genau zu sein, Detektivromane. Diese Werke wurden unter dem Namen William Wilson verfasst, und er produzierte ungefähr ein Buch pro Jahr, womit er genug verdiente, um in einer kleinen Wohnung in New York bescheiden leben zu können. Da er für einen Roman nicht mehr als fünf oder sechs Monate brauchte, konnte er den Rest des Jahres tun, was er wollte. Er las viele Bücher, er sah sich Gemälde an, er ging ins Kino. Im Sommer verfolgte er die Baseballspiele im Fernsehen, im Winter besuchte er die Oper. Was er aber am liebsten tat, war Gehen. Beinahe jeden Tag, ob Sonne oder Regen, heiß oder kalt, verließ er seine Wohnung, um durch die Stadt zu gehen – er ging nie wirklich irgendwohin, sondern ging einfach, wohin ihn seine Beine zufällig trugen.

New York war ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel und Straßen auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein. Verloren nicht nur in der Stadt, sondern auch in sich selbst. Jedes Mal, wenn er ging, hatte er ein Gefühl, als ließe er sich selbst zurück, und indem er sich der Bewegung der Straßen überließ, sich auf ein sehendes Auge reduzierte, war er imstande, der Verpflichtung zu denken zu entgehen, und das brachte ihm mehr als irgendetwas sonst ein Maß von Frieden, eine heilsame Leere in seinem Inneren. Die Welt war außerhalb seiner selbst, um ihn herum, vor ihm, und die Schnelligkeit, mit der sie ständig wechselte, machte es ihm unmöglich, bei irgendeiner Einzelheit lange zu verweilen. Die Bewegung war entscheidend, die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich einfach von seinem eigenen Körper treiben zu lassen. Durch das ziellose Wandern wurden alle Orte gleich, und es war nicht mehr wichtig, wo er sich befand. Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, dass er nirgends war. Und das war letzten Endes alles, was er je verlangte: nirgends zu sein. New York war das Nirgendwo, das er um sich her aufgebaut hatte, und es war ihm bewusst, dass er nicht die Absicht hatte, es jemals wieder zu verlassen.

Früher war Quinn ehrgeiziger gewesen. Als junger Mann hatte er einige Gedichtbände veröffentlicht, er hatte Stücke und kritische Essays geschrieben und an mehreren langen Übersetzungen gearbeitet. Aber ganz plötzlich hatte er all das aufgegeben. Ein Teil von ihm sei gestorben, hatte er zu seinen Freunden gesagt, und er wolle nicht, dass er zurückkomme, um i