: Julie Cohen
: Mit den Augen meiner Schwester Roman
: Diana Verlag
: 9783641076559
: 1
: CHF 7.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine unvergessliche Schwesterngeschichte vom Weglaufen und Nach-Hause-Finden
Als Kind konnte Liza Haven es kaum erwarten, ihrem beschaulichen Heimatort Stoneguard zu entfliehen. Lange war sie schon nicht mehr dort - seit jenem schrecklichen Weihnachtsfest, als die Mutter Lizas Schwester Lee zu ihrer Nachfolgerin in der familieneigenen Eiscreme-Manufaktur bestimmte. Als Liza nun nach Jahren in Amerika nach England zurückkehrt, muss sie feststellen, dass ihre scheinbar perfekte Schwester sich aus dem Staub gemacht hat. Unbeabsichtigt schlüpft sie in Lees Rolle und erkennt, dass deren Leben nicht so leicht und sorgenfrei ist, wie sie immer angenommen hatte. Ihren kleinen Heimatort hingegen findet sie gar nicht mehr so übel - Lees festen Freund Will übrigens auch nicht ...

Julie Cohen wurde in Maine, USA, geboren und verbrachte ihre Kindheit zwischen Büchern in der Bibliothek. Sie studierte Literatur an der Brown und der Cambridge University, und wenn sie nicht gerade an ihren Romanen arbeitet, leitet sie Schreibworkshops. Sie lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund in Berkshire, England.

Der Geburtstag

Ich saß in einem Goldlamékleid, das mir kaum über den Hintern reichte, auf der Felskante und ließ die Beine über dem Abgrund baumeln. Meine nackten Oberschenkel waren von Gänsehaut überzogen. Um dieSchultern hatte ich mir eine Winterjacke gelegt, undmeine blonde Perücke kauerte neben mir wie ein kleines, extrem langhaariges Tier, ein mutiertes Meerschweinchen vielleicht.

Unter mir erstreckten sich die Gelb- und Brauntöne der Wüste wie ein weites, trockenes Meer. Kakteen und Felsbrocken warfen lange blaue Schatten. Es sah kalt aus, aber nicht so kalt, wie mein Körper sich anfühlte. Die Sonne kam eben erst über die Bergspitze gekrochen, und das Filmteam, das zu dieser gnadenlos frühen Stunde mit dem Bus aus Barstow angekarrt worden war, scharte sich um seine Ausrüstung. Alle steckten in Pullis und Anoraks, umklammerten Pappbecher mit Kaffee und waren in Dampfschwaden eingehüllt.

Ich gähnte und zappelte mit den Füßen in den flachen Mokassins. Es war ein ganz schönes Stück von hier bis nach unten in den Wüstensand. Die Leute dachten immer, Filme zu drehen wäre total aufregend und glamourös, erst recht für eine Stuntfrau, aber größtenteils bestand es aus endloser Warterei zu unmöglichen Uhrzeiten. Ich hätte gut noch ein, zwei Stunden Schlaf vertragen können. In meiner Jackentasche wühlte ich nach den extrastarken Pfefferminzpastillen und wollte mir gerade eine in den Mund stecken, als ich hinter mir das Knirschen von Kies hörte.

»Schickes Kleid«, sagte Allen.

»Ein Schneeanzug wäre mir lieber.«

»Hast du da drin zufällig ein bisschen Hühnerbrust? Ich hab noch nicht gefrühstückt.«

Ich schielte in meinen Ausschnitt, der mit keinerlei Einlagen getunt war, weder vom Typ Hühnerfilet noch sonstigen. Die Dinger hasste ich noch mehr als die Perücken; es gab nichts Blöderes, als mitten in einer Kampfszene seinem Gegner einen Teil der eigenen Oberweite ins Gesicht zu schleudern. »Gott sei Dank steht heute kein Geflügel auf der Karte. Die Heldin hat nur Körbchengröße B.«

Ich hörte ihn hinter mir über die Leitplanke klettern. »Bist du sicher, dass das nicht gefährlich ist?«

»Nein. Aber genau das ist ja der Spaß daran.«

Sein großer, vertrauter Körper ließ sich neben mir auf der Felskante nieder. »Ich hab dir noch einen Kaffee mitgebracht.«

»Danke. Kann ich gut gebrauchen.« Ich nahm ihm den dampfenden Becher ab, und er sorgte dafür, dass unsere Finger sich dabei berührten.

»Hübscher Ausblick.«

Ich zuckte die Achseln. »Wüste eben.«

»Eigentlich meinte ich deine Beine.«

Ich musste lachen. Allen konnte ohne mit der Wimper zu zucken von Wolkenkratzern springen, er konnte mich in einem fairen Kampf niederringen, und er konnte mich immer zum Lachen bringen, selbst wenn mirnicht danach war – wie gestern Abend zum Beispiel. Jetzt rubbelte er sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare und dann über die Stoppeln an seinem Kinn.

»War lustig gestern«, sagte er.

»Ja.«

»Allerdings bin ich ein bisschen angeschlagen. Du?«

»Mir geht’s gut.«

»Du wirkst ein bisschen nervös.«

»Tja, ich hänge hier über dem Abgrund.«