: Clemens Bittlinger
: Da, wo ich bin, da will ich sein! Von der Freiheit, authentisch zu leben
: Kreuz
: 9783451339448
: 1
: CHF 10.80
:
: Christliche Religionen
: German
: 180
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Clemens Bittlinger ermutigt dazu, das Leben, das man lebt, wertschätzend anzunehmen, aber auch die Potenziale zu erkennen, die Mut zur Veränderung freisetzen können. Liedtexte aus dem Album 'Bitte frei machen' sowie Geschichten aus der Bibel, die Bittlinger ganz neu und überraschend interpretiert, machen das Buch zu einem Leseerlebnis, das Sehnsüchte weckt und zu einem selbstbestimmten, aber auf Gott vertrauenden Leben ermutigt.

Clemens Bittlinger, Pfarrer und Buchautor, ist vor allem eines: Liedermacher. über 3.500 Konzerte in den vergangenen drei Jahrzehnten, 35 veröffentlichte CDs mit einer Gesamtauflage von rund 300.000 verkauften Exemplaren (Gold 2009) machen diesen preisgekrönten Singer-Songwriter zu einem der erfolgreichsten Interpreten seines Genres. Längst haben einige seiner Lieder in zum Teil millionenfacher Auflage den Weg ins allgemeine Liedgut der Kirchengemeinden gefunden.

Da, wo ich bin, da will ich sein!


Im Gefängnis


Waren Sie schon einmal in einem Gefängnis? In der Vergangenheit wurde ich immer wieder einmal eingeladen, bei Gefängnisgottesdiensten mitzuwirken. Die Begegnungen mit Gefangenen sind oft beklemmend, denn ein Gefängnis gehört mit Sicherheit zu den Orten, an denen man am wenigsten sein möchte. Um als Außenstehender ein Gefängnis betreten zu können, bedarf es einer längeren Vorbereitung: Man muss angemeldet sein und seinen Personalausweis an der Pforte abgeben. Dann schließt sich hinter einem das Eingangstor und das nächste wird geöffnet und gleich hinter einem wieder verschlossen.Überall sind Kameras und Wachleute, aus den Gängen schallt der Lärm von Männerstimmen und der Essensausgabe. In den meisten Gefängnissen gelangt manüber einen Innenhof hinüber in den Trakt, in dem die Kirche des Gefängnisses untergebracht ist. Auf meinem Weg dorthin mustern mich die Insassen, die zum Teil schon vor der Kirche oder im Gottesdienstraum stehen, neugierig. Der Sakralraum wirkt meistens wie eine kleine Oase in der Tristesse des Gefängnisalltags, und das ist auch gut so. Obwohl sich die Gefangenen vorher anmelden müssen, wenn sie an den Gottesdiensten teilnehmen möchten, sind diese meist recht gut besucht. Das hat in der Regel weniger damit zu tun, dass diese Menschen besonders fromm oder hungrig nach»geistlicher Nahrung« sind, sondern vor allem auch damit, dass sie sich hier relativ frei bewegen und begegnen können. Man trifft die anderen außerhalb des vorgesehenen Rahmens, kann Tauschgeschäfte anbahnen und hat, wenn Gäste da sind, zumindest einen minimalen Außenkontakt. Viele der Insassen singen gerne, zum Beispiel Gospels oder Shantys, und in manchen Gefängnissen gibt es eine Art Kirchenchor. Vielleicht ist es auch die Musik und der Klang der eigenen Stimme, verbunden mit einem trostvollen Lied, die einenüber die momentane, eigene Befindlichkeit hinausträgt, die das Singen in den Gefängnisgottesdiensten so beliebt macht.

 

Von einem Gesang»hinter Gittern« berichtet uns auch die Apostelgeschichte in Kapitel 16. Dort wird berichtet, dass man den Apostel Paulus und seinen Begleiter Silas in den Sicherheitstrakt eines Gefängnisses geworfen hatte. Da saßen sie nun, in Ketten gelegt, im Dunkeln, hungrig und durstig. Kein angenehmer Ort und eigentlich eine Situation, in der man laut aufschreien und sich beim Leben oder beim lieben Gott bitter beschweren möchte. Doch etwas anderes geschieht: Um die Mitternachtszeit begannen die beiden zu beten und Gott zu loben. Das taten sie laut und sicher auch mit Gesang, denn die anderen Gefangenen hörten sie.

 

Wenn wir Lieder singen, strecken wir uns nach der Freiheit aus, und wenn wir Gott loben, dann strecken wir uns nach einer Freiheit aus, dieüber unsere Tränen und unseren Schmerz hinausgeht. Wir spüren dann vielleicht, dass wir nicht allein sind. Im Hebräischen, der Ursprache der Bibel, bedeutet das Wort»näfäsch« sowohl»Kehle« als auch»Seele«. Wenn wir also mit unserer Kehle ein Lied anstimmen, dann schwingt unsere Seele mit. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir ein Dank- oder Loblied singen, denn wir wenden uns dann ganz bewusst an den Ursprung unserer Seele, an den Schöpfer. Somit war das Singen von Paulus und Silas viel mehr als das berühmte»Pfeifen im Wald«, wenn man Angst hat. Es war Ausdruck ihrer Freiheit– mitten im Gefängnis.

Man muss sich den Glauben und das Vertrauen der beiden einmal vor Augen führen: Welchen Grund hatten sie, Gott zu loben? Ich glaube, ich wäre ziemlich sauer gewesen und hätte mich bei Gott heftig beklagt. Aber das Vertrauen darauf,»dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten sind« (Römer 8,28), war so stark, dass sie sich bei Gott bedankt haben für die Situation, in der sie waren. Während sie also kein Klagelied, das sie bestimmt auch auf den Lippen gehabt hätten, angestimmt haben, sondern es bewusst durch ein frohes und dankbares Lied ersetzt haben, wurden sie selbst von dieser Freude und Hoffnung erfasst.

Paulus und Silas haben sich ganz bewusst für das sprichwörtlichhalb volle Glas entschieden und nicht für das halb leere. Darin besteht das Phänomen des Glaubens, dass dieäußeren Umstände die innere Freiheit im Grunde nicht antasten können.»Ist Gott für uns, wer will dann gegen uns sein?« (Römer 8,31). Aus dieser inneren Freiheit sind die Gospels und Spirituals der versklavten Schwarzen entstanden, man hat sich und die anderen an die eigentliche Heimat erinnert und daran, dass es eine Freiheit gibt, die nicht in Ketten gelegt werden kann.

Paulus und Silas machen also das Beste aus ihrer Situation, indem sie sich positiv stimmen und sich darüber klar werden, dass ihre Situation das Ergebnis dessen ist, was sie von Herzen bejahen und wollen: Sie haben sich dafür in aller Freiheit entschieden, Jesus Christus nachzufolgen und seine befreiende Botschaft zu verkünden. Deshalb wurden sie ein