: Luisa Francia
: Die Schatzhüterin Klassische Märchen neu erzählt
: nymphenburger Verlag
: 9783485060134
: 1
: CHF 4.40
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Märchen ohne Patriarchat: Schneewittchen, Goldmariken und Jorinde sind archetypische Frauen und Hüterinnen des weiblichen intuitiven Wissens. Die Art, wie ihre Geschichten erzählt wurden, spiegelt die Sichtweise und Moral derer, die sie zusammengetragen habe. Aufgrund neuester Forschungsergebnisse über das Leben der Frauen in früheren Kulturen erzählt Luisa Francia die klassischen Märchen neu. Sie löst sie aus patriarchalen Denkstrukturen und ermöglicht dadurch einen neuen, intuitiven Zugang zu verborgener Weisheit. Ihre Märchen sind dringend notwendige, neue Wirklichkeitsentwürfe für unsere heutige Zeit.

Luisa Francia ist Schriftstellerin, Künstlerin, Zauberkundige, Reisende, hat eine erwachsene Tochter, spricht fünf Sprachen und hat über dreißig Bücher veröffentlicht, von denen einige Bestseller wurden. Sie führt ein Internet-Tagebuch und beschäftigt sich am liebsten mit der Wiederverzauberung der Welt.

Dornröschen


In alten Zeiten wurden Königreiche nicht nur von Königen und Königinnen geführt, sondern auch von Feen. Die Zeit wurde nach dem Mond gemessen und für jeden Mond im Jahr war eine Fee zuständig. Stand der Wintermond am Himmel, so kam die Traumfee und leitete die Geschicke der Menschen, ihr folgten die Eisfee, die Wasserfee, die Pflanzenfee, die Tierhüterin, die Erdfee, die Blütenfee, die Feuerfee, die Früchtefee, die Glücksfee, die Fee der Künste, die Fee des Lichts und die Fee der Dunkelheit und der Nacht. Dreizehn Feen begleiteten das Leben aller Menschen. König und Königin hatten für die dreizehn Feen dreizehn Teller und einmal im Jahr wurden alle Feen zum großen Fest eingeladen. Doch der König hatte eine verhängnisvolle Idee.

»Es passt mir nicht«, sagte er, »dass wir uns immer nach diesen Feen richten müssen! Und auch der Mond ist mir unheimlich. Ich möchte zwölf goldene Teller für zwölf Sonnenmonate haben und die Feste nach der Sonne feiern.«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte die Königin.

»Wir laden die Fee der Dunkelheit nicht ein, die mag ich sowieso nicht«, entgegnete der König. Die Königin protestierte, doch kam sie gegen den König nicht an.

Die Königin war schwanger und bekam eine kleine Tochter. Zur Geburt der Tochter wurden zum ersten Mal die Feen zum Mahl der goldenen Teller geladen. Die Fee der Dunkelheit bekam keine Einladung. Die zwölf Feen saßen an ihren zwölf Tellern. Eine nach der anderen stand auf und sprach einen Wunsch für die kleine Prinzessin aus. Wohlstand, Gesundheit, Lebensfreude usw. Als nur noch die Glücksfee ihren Wunsch sprechen sollte, flog die Tür auf. Da stand die Fee der Dunkelheit. Die Gäste erstarrten.

»Die Prinzessin soll sich mit fünfzehn Jahren an einer Spindel stechen und sterben!«, rief sie zornig.

Die Glücksfee stand auf und wiegte den Kopf hin und her.

»Der Zorn meiner Schwester ist berechtigt«, sagte sie, »doch will ich ihren Wunsch wandeln. Die Prinzessin soll in eine tiefe Trance fallen.«

Die Stimmung war nicht mehr zu retten, die Königin löste das Fest auf und machte ihrem Mann große Vorwürfe. Sie zog aus dem Schlafzimmer aus in einen anderen Flügel des Schlosses und hütete ihre Tochter wie ihren Augapfel.

Das kleine Mädchen war überaus lebendig, klug und sehr fröhlich und alle Menschen, die ihr begegneten, liebten es, weil es so freundlich war.

In ihrer Kindheit hielten sich alle streng an das Gebot der Königin: Die Kleine darf keine Spindel berühren und keiner Spinnerin begegnen. Doch allmählich vergaß man den Fluch der Fee der Dunkelheit und die junge Prinzessin bewegte sich überall frei, entließ ihre Wächter und war unbesorgt.

Eines Tages erhielten Königin und König eine Einladung einer befreundeten Königsfamilie. Man machte sich Sorgen, denn an de