: Axel Pütter, Frank Schneider
: 15 Morde und andere Todesfälle Wahre Kriminalgeschichten eines Hauptkommissars
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644457515
: 1
: CHF 10.00
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: Gesellschaft
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«Tut mir leid, du musst ran. Wir haben eine erstochene Frau in Witten. Sieht aber nicht nach einem komplizierten Fall aus, der Täter hat sich bereits gestellt.» Auch wenn es verrückt klingt: Ich war trotz der schlimmen Tat erst einmal erleichtert. Bei Tötungsdelikten dieser Art sagen wir Ermittler: «Der Mörder sitzt auf der Leiche.» Nach drei Tagen hatten wir den Fall mehr oder weniger abgeschlossen. Der Täter saß in U-Haft. Er war geständig, die Beweise waren eindeutig, und wir hatten ein klares Motiv - verschmähte Liebe. Dass Motive aber auch abstrus und unfassbar sein können, sollte ich schon ganz bald erfahren. Sehr bald. Im Grunde am selben Tag ... Tatort: Ein Hauptkommissar ermittelt. Vom Serienmörder bis zum kaltblütigen Totschläger, vom verzweifelten Familienvater bis zum Frauenjäger: 20 Jahre lang war Axel Pütter an der Aufklärung von Tötungsdelikten aller Art - unfassbaren, bewegenden und skurrilen - beteiligt und überführte zahlreiche Täter. Nun öffnet er die Akten und berichtet von den Fällen, die ihn in seiner Laufbahn am intensivsten beschäftigt und geprägt haben. Dabei gibt er außergewöhnliche Einblicke in die Welt der heutigen Polizeiarbeit.

Nach seinem Studium zum Kriminalkommissar wurde Axel Pütter 1988 Mitglied, 1994 Leiter einer Mordkommission und 2002 stellvertretender Dienstellenleiter im Fachkommissariat für Tötungsdelikte bei der Polizei Bochum. Gleichzeitig war er Dozent für Kriminologie, Kriminalistik und Rechtskunde. Heute ist er Leiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums Bochum.

Fall 2Mordlust


Die Fotos zeigen die Eingänge zum Büro-/ und Wohncontainer, sowie das Firmengelände.

Es ist jener besagte Freitag, der7. Dezember2001, noch früher Morgen. Wir haben weiterhin Bereitschaftsdienst. In der Kaffeerunde beimKK 11 bemerkt Micha, was alle an diesem Tag nach Nikolaus denken: «Es ist gut, dass wir gerade einen relativ einfachen Fall zu Ende gebracht haben. Jetzt können die Feiertage kommen, uns lässt man bestimmt in Ruhe.» In diesem Moment klingelt der Apparat unseres Chefs. Interessiert höre ich zu, wie Walter Pindur, ein sehr erfahrener Mordermittler, sagt: «Hmm, erstochen? Tja, wo denn? Aha, Großmarkt in Herne. Ja, dieMK V hat Bereitschaft. Ich gebe denen Bescheid. Und mache allen vor Ort klar, dass sie nichts verändern sollen, aber das ist ja selbstverständlich. Wir kommen sofort raus!» Walter blickt mich an – und braucht nichts mehr zu sagen. Von wegen ruhige Zeiten. Das ist der zweite Mordeinsatz in nur einer Woche. Verbrechern ist es vollkommen gleichgültig, dass wir gerade erst ein Tötungsdelikt hatten.

Walter leitet das gesamte Kriminalkommissariat11, er ist der Chef aller Mordkommissionen. Ruhige Stimme, klarer Blick, trockener Humor. Er hat schon Mörder gefasst, als es noch keinen genetischen Fingerabdruck gab. Im Telegrammstil verkündet er der Runde: «Eine Leiche ist aufgefunden worden. In einem Wohncontainer einer Firma am Großmarkt in Herne. Der Notarzt konnte keinen natürlichen Tod bescheinigen, der Leichnam wurde blutüberströmt entdeckt. Der Mann ist vermutlich durch mehrere Messerstiche getötet worden.» Typisch Walter: sachlich exakt und kein Wort zu viel.

Mir schießt durch den Kopf: Super! Der nächste Einsatz! Und es hört sich alles andere als gut an. Denn eines steht jetzt schon fest: Dieser Fall wird nicht so einfach und unkompliziert zu lösen sein. Hier hat sich ganz offensichtlich kein Täter gestellt. Und im nächsten Moment denke ich: Bloß kein neuer ungeklärter Fall! Denn einen bis heute ungeklärten Mord trage ich seit Jahren mit mir herum. Es ist wie eine Wunde, die nicht schließen will. Jeder, der Mörder jagt, will partout, dass der Täter gefunden wird. Zu wissen, dass nach vielen Wochen, ja Jahren Arbeit der Täter noch immer frei herumläuft, ist für jeden Ermittler nämlich der Albtraum. Ganz automatisch fällt mir dieser alte Fall von1996 ein. Da wurde ein Mitarbeiter von Opel kurz nach Mitternacht in Bochum-Wattenscheid auf offener Straße erstochen. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf den Mörder. Schnell wische ich den Gedanken weg, ich will ihm keinen Raum geben. Ich gehe einfach davon aus, dass wir den zweiten Täter in dieser Woche auch erwischen werden.

Erneut werden die Kollegen der Mordkommission V, meiner Kommission, zusammengetrommelt. Bis auf unseren «Ersatzmann Thomas» vom Kriminalkommissariat in Witten – nicht zu verwechseln mit Tommi – sind alle, die auf demMK-Bereitschaftsplan stehen, innerhalb von fünfzehn Minuten im Besprechungsraum desKK 11. Thomas, ein Polizist, der nicht nur die Details, sondern auch das Ganze im Blick hat, muss noch einen Gerichtstermin absolvieren und lässt uns telefonisch mitteilen, dass er nachkommt, sobald er damit fertig ist. Auf ihn warten können wir nicht, wir müssen los.

Zuvor instruiere ich kurz die Truppe, teile sie wie immer in Teams ein. Schnell noch sämtliche dienstlichen Telefonnummern auf einen Zettel kopieren, damit nicht lange gesucht werden muss, wenn man einen Kollegen erreichen will – und dann ab in die Autos. Es geht zum Tatort, wo wir die Kollegen von der Schutzpolizei ablösen wollen. Sie haben schon den Tatort für uns abgesperrt.

Wir brauchen zum Großmarkt etwa zwanzig Minuten. Es ist kalt, knapp über null, ein eisiger Wind weht, aber immerhin scheint die Sonne. Eigentlich ein schöner, klarer Wintertag. Eigentlich. Schon nach wenigen Minuten im Freien friere ich, denn an diesem Tag habe i