: Heinrich Wefing
: Gebrauchsanweisung für Kalifornien 8. aktualisierte Auflage 2017
: Piper Verlag
: 9783492955560
: 1
: CHF 10.00
:
: Nord- und Mittelamerika
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Selbst wer zum ersten Mal in Kalifornien landet, kommt in ein Land, dessen Bilder ihm längst vertraut sind. Er erkennt die Highways und die Golden Gate Bridge wieder, den Hollywood-Schriftzug über L.A., die Palmen und die Sonnenuntergänge. Doch hinter der rosa schillernden Fassade gibt es viel mehr zu entdecken: Heinrich Wefing verrät, warum man sich San Francisco vom Wasser her nähern muss, er lüftet das Geheimnis des Nebels und erklärt, wie ampelfreie Kreuzungen funktionieren. Er lädt zu einer Parade am Unabhängigkeitstag in Sausalito und zur Fahrt durch das Central Valley ein. Und gibt preis, warum hellblaue Frotteeanzüge hier das ganze Jahr über Konjunktur haben.

Heinrich Wefing, geboren 1965, stellvertretender Ressortleiter Politik bei der ZEIT in Hamburg, hat mehrere Jahre in Kalifornien gearbeitet. Von der amerikanischen Westküste berichtete er als Korrespondent der F.A.Z., deren Feuilleton-Büro in Berlin er anschließend leitete. Zuletzt erschien sein Buch »Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess«.

Der erste Augenblick


Versuchen Sie bitte, liebe Leser, sich den ersten Blick einzuprägen, den Sie auf Kalifornien werfen. Merken Sie sich, wo Sie sitzen, wie spät es ist, wie hoch die Sonne steht. Versuchen Sie nicht zu vergessen, wie die Luft riecht, woher der Wind weht und was sie sehen. Das vor allem: Behalten Sie die Aussicht im Gedächtnis. Egal welche– die auf das Gitternetz der Straßen, auf das Küstengebirge und die helle Sichel des Ufers, die Sie durch die Kabinenfenster erkennen, wenn Sie mit dem Direktflug aus Frankfurt in»Los Angeles International« landen. Oder auf das Durcheinander von grünen Hügeln, glitzerndem Wasser, Nebelfetzen und Wolkenkratzern beim Anflug auf San Francisco. Reservieren Sie diesen Eindrücken einen Platz in Ihrer Erinnerung. Nicht nur als Reiseandenken, als banale Begebenheit, die Sie später daheim Ihren Freunden erzählen können. Nein, daß Sie diesen Moment bewußt wahrnehmen, hilft Ihnen, etwas Grundlegendes zu verstehen: Ankommen ist das kalifornische Urerlebnis. Eine kollektive Erfahrung, die beinahe jeder hier teilt. Neu zu sein ist in Kalifornien der Normalzustand. Eine selbstverständliche Daseinsform. Für die meisten, die zwischen San Diego und Eureka leben, ist es noch gar nicht lange her, daß sie vom Fremden zum Einheimischen geworden sind. Der Staat im Westen ist Zuwandererland von alters her, eine Gesellschaft von Menschen, die gerade erst ihre Umzugskisten ausgepackt haben (wenn sie dennüberhaupt Gepäck dabeihatten). Von den fünfzehn Millionen Menschen zum Beispiel, die im Großraum Los Angeles leben, einem fragilen Gebilde, das in abertausend ethnische Splitter zerfällt, je genauer man hinsieht, sind fast vierzig Prozent außerhalb der Vereinigten Staaten geboren, und fast zwei Drittel von ihnen sprechen beim Abendessen mit ihrer Familie kein Englisch, sondern ihre eigene, importierte Sprache; vorzugsweise Spanisch. Sie alle sind Experten der Eingewöhnung, Fachleute für das Gefühl der Fremdheit. Sie wissen, wie beschwerlich es ist, fern der Heimat zu sein, und doch würden sie die Reise vermutlich gleich noch einmal antreten, wenn sie müßten.

Menschen kommen auf Schiffen nach Kalifornien, in Flugzeugen, mit der Eisenbahn oder dem eigenen Auto. Zu Fußüber die grüne Grenze, legal oder illegal, aus Amerika und aus aller Welt. Es sind wahre Menschenfluten, die da heranrollen, Welle um Welle, und sie kommen so zuverlässig wie die Gezeiten. Eine menschliche Brandung, die unablässigüber Kaliforniens Küsten und Grenzen schwappt, Tag und Nacht, sommers wie winters. Mitunter steigt die Flut ein wenig höher, mal ebbt sie ab, doch sie versiegt nie. All die Neuen, die Fremden, die Abenteurer und Heimatlosen haben das Land, das so groß ist wie Schweden, in den letzten hundertfünfzig Jahrenüberhaupt erst bevölkert. Niemand weiß genau, wie viele Indianer im sechzehnten Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien lebten, als die ersten Missionare von Mexiko her nach Norden vorstießen. Wahrscheinlich waren es nur zwei- oder dreihunderttausend Angehörige verschiedener Stämme, die sich in der Weite fast verloren haben müssen. So menschenleer blieb Kalifornien lange. 1848, kurz vor Ausbruch des Goldrauschs, hatte San Francisco erst achthundert Einwohner, Santa Barbara tausend, Los Angeles zwölfhundert. Dann aber explodierte die Gier, und mit ihr die Zahlen; was zuvor ein Rinnsal gewesen war, wurde zur Springflut. In den vier Jahren bis 1852, als längst schon keine Goldklumpen mehr mit der bloßen Hand aus den Bächen der Sierra Nevada geholt werden konnten, fielen rund zweihunderttausend Glückssucher in das Land ein, und seither hat der Zustrom nicht mehr nachgelassen. Heute leben in Kalifornien mehr Menschen als in jedem anderen Bundesstaat Amerikas: gut achtunddreißig Millionen. Und in zwanzig bis dreißig Jahren, spätestens 2050, wird Kalifornien mehr Einwohner zählen als das vergreisende Deutschland.

Manche der Zuwanderer kamen, um Gold und Silber zu suchen. Um Eisenbahnen zu bauen, das Christentum zu verbreiten oder mit Grundstücken zu spekulieren. Heute kommen viele, um in Stanford und Berkeley zu studieren, um reich zu werden im Silicon Valley oder berühmt in Hollywood. Die meisten aber wurden– und werden– von bescheideneren Träumen hierher gezogen. Von der Hoffnung vor allem, nur irgendwie ein Auskommen zu finden. Ein Leben in Freiheit und ohne Not. Deshalb sind die chinesischen Wanderarbeiter gekommen, die verschuldeten Farmer aus der Dust Bowl während der großen amerikanischen Depression in den dreißiger Jahren, farbige Amerikaner aus Texas und Louisiana, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Arbeit in den Rüstungsfabriken von Los Angeles fanden; deshalb kommen heute die Obstpflücker aus Mexiko, die philippinischen Großfamilien, die Flüchtlinge aus dem Iran. Menschen vonüberall her. Versuchen Sie, liebe Leser, sich diese ewige Völkerwanderung nach Westen klarzumachen, wenn Sie am Flughafen in der Schlange vor der Paßkontrolle stehen oder am Gepäckband nach Ihrem Koffer Ausschau halten. So wie Sie jetzt– müde, neugierig, verwirrt– sind Millionen vor Ihnen nach Kalifornien gekommen.

Denken Sie an die Tausenden, die jedes Jahr durch die Wüste geschmugg