Eigentum verpflichtet
Das Eigentum spielt im Selbstverständnis der sich in der Neuzeit entwickelnden bürgerlichen, liberalen und kapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Bereits bei John Locke (1632 – 1704), dem Urvater des neuzeitlichen Liberalismus, und dann bei allen maßgeblichen liberalen Theoretikern wird das Eigentum als fundamentales Menschenrecht verstanden, das Freiheit erst ermöglicht. Demgegenüber ist es die Grundüberzeugung des marxistischen Sozialismus, dass (reale) Freiheit und Gerechtigkeit durch die Privateigentumsordnung zerstört werden. In diesem Sinne schreiben Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem 1848 erschienenen Manifest der Kommunistischen Partei, man könne das kommunistische Programm»in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen« (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, 475).
Die kommunistische Ideologie von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist durch die Geschichte der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg als epochaler Irrtum entlarvt worden. Wo auch immer die Marx’sche Idee der Vergesellschaftung in Angriff genommen wurde, lief es auf eine Verstaatlichung hinaus, auf Unterdrückung und Diktatur, auf ein politisches, wirtschaftliches und menschliches Desaster, das 1989 in Europa Gott sei Dank sein Ende gefunden hat. Kardinal Joseph Ratzinger schrieb in der Neuausgabe seiner»Einführung in das Christentum« im Jahr 2000 zutreffend, dass davon»ein trauriges Erbe zerstörter Erde und zerstörter Seelen« zurückblieb.
Allerdings sind Marxismus und Kommunismus auch nicht wie eine Naturkatastropheüber die Menschheit gekommen. Karl Marx, seine Gesinnungsgenossen und Gefolgsleute haben auf eine dramatische Begleiterscheinung der industriellen und kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung reagiert: die soziale Ausgrenzung der sich entwickelnden Industriearbeiterschaft in den schnell wachsenden Städten. Den Industriearbeitern ging es in wirtschaftlicher Hinsicht nicht schlechter als Generationen von Landarbeitern in der gesamten Neuzeit. Aber im Gegensatz zu ihnen waren die Industriearbeiter nicht mehr inüberkommene soziale, moralische und kulturelle Lebensbezüge eingebettet, die trotz allen materiellen Mangels ein gewisses Maß an Halt und sozialer Identität verbürgten. Indem die in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eindrucksvoll fortschreitende bürgerliche Gesellschaft»vergaß«, die Industriearbeiterschaft auf ihrem Weg in Freiheit und Wohlstand mitzunehmen, bereitete sie auch Marx und der kommunistischen Ideologie den Weg.
Anders als den klassischen Liberalen fehlte manchen ihrer Vertreter im 19. Jahrhundert das Verständnis für die Geschichte und ein realistischer Blick auf den Menschen. Wie die Marxisten glaubten, aus der Aufhebung des Privateigentums und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel würden gleichsam naturgesetzlich tatsächliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit entstehen, meinten manche Laissez-faire-Liberale, Privateigentum und Gewerbefreiheit würden ausreichen, um nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen und sozialen Fortschritt hervorzubringen.
Diesem technizistischen Denken hat Ketteler entschieden widersprochen. Auch er ist für das Recht auf Eigentum eingetreten. Aber er hat sehr eindringlich die Notwendigkeit betont, dass die Privateigentumsordnung in eineübergreifende kulturelle Ordnung eingebunden sein muss, in der die mit dem Recht auf Eigentum verbundenen moralischen Pflichten klar vor Augen stehen.
»Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«, so steht es heute in Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes. Dieser Grundsatz unterscheidet die Soziale Marktwirtschaft, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas begründet worden ist, vom Kapitalismus mit seinem Laissez-faire-Prinzip im 19. Jahrhundert, dem eine wirkliche Ordnung fehlte. Zu diesem fundamental anderen Verständnis haben viele beigetragen: Christlich-Soziale im Gefolge Kettelers, Sozialdemokraten und auch die zu Unrecht heute viel geschmähten Neoliberalen. Denn das Neue am Neoliberalismus war ja gerade die Einsicht, dass eine lebensfähige freiheitliche Gesellschaft und Marktwirtschaft nicht dadurch entstehen, dass man den Dingen einfach ihren Lauf lässt, sondern dass man einen Rahmen schafft, der den Wettbewerb in gemeinwohldienliche Bahnen lenkt. Das ist die gemeinsame Einsicht, gleichsam der demokratische Konsens seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Freilich ließ und lässt dieser Konsens eine Menge Spielraum für den politischen Streit darüber, wie man eine Wettbewerbsordnung gemeinwohldienlich ausgestaltet.
Mit Blick auf die uns immer noch und auf absehbare Zeit wohl weiterhin beschäftigende Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise dürfen unsere Diskussionenüber Soziale Marktwirtsc