: Reinhard Marx
: Christ sein heißt politisch sein
: Verlag Herder GmbH
: 9783451338717
: 1
: CHF 9.70
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: Christliche Religionen
: German
: 140
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) hat mit seinem ganzen Leben - zunächst als preußischer Beamter, dann als Priester und Bischof - Zeugnis dafür abgelegt, dass Christ zu sein auch verlangt, politisch zu sein. Als Arbeiterbischof hat er die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts zum Thema der Kirche gemacht und damit die Katholische Soziallehre auf den Weg gebracht. Er hat die Sozialpflichtigkeit des Eigentums betont, eine Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert und unermüdlich die Frage des gerechten Lohnes gestellt. Er hat darüber nachgedacht, welche Rolle das Christentum in der modernen Gesellschaft spielt, in welchem Verhältnis der Glaube an eine religiöse Wahrheit und politische Freiheit stehen und wie die Beziehung von Kirche und Staat aussehen sollte. Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx zeigt in diesem Band: Viele der Fragen, die Ketteler gestellt hat, sind auch heute noch oder wieder aktuell. Seine damaligen Antworten können uns inspirieren bei unserer Suche nach Lösungen für die sozialen Konflikte und politischen Fragen unserer Tage.

Reinhard Kardinal Marx Dr. theol., geb. 1953, 1996 bis 2001 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät in Paderborn, 2002 bis 2008 Bischof von Trier, seit 2008 Erzbischof von München und Freising. Von Papst Franziskus wurde er in das Gremium der 9 Kardinäle berufen, das über die Reform der Kurie berät. Zudem ist Kardinal Marx Koordinator des Vatikanischen Wirtschaftsrates und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz sowie der Präsident der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft.

Eigentum verpflichtet


Das Eigentum spielt im Selbstverständnis der sich in der Neuzeit entwickelnden bürgerlichen, liberalen und kapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Bereits bei John Locke (1632  1704), dem Urvater des neuzeitlichen Liberalismus, und dann bei allen maßgeblichen liberalen Theoretikern wird das Eigentum als fundamentales Menschenrecht verstanden, das Freiheit erst ermöglicht. Demgegenüber ist es die Grundüberzeugung des marxistischen Sozialismus, dass (reale) Freiheit und Gerechtigkeit durch die Privateigentumsordnung zerstört werden. In diesem Sinne schreiben Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem 1848 erschienenen Manifest der Kommunistischen Partei, man könne das kommunistische Programm»in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen« (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, 475).

Die kommunistische Ideologie von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist durch die Geschichte der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg als epochaler Irrtum entlarvt worden. Wo auch immer die Marx’sche Idee der Vergesellschaftung in Angriff genommen wurde, lief es auf eine Verstaatlichung hinaus, auf Unterdrückung und Diktatur, auf ein politisches, wirtschaftliches und menschliches Desaster, das 1989 in Europa Gott sei Dank sein Ende gefunden hat. Kardinal Joseph Ratzinger schrieb in der Neuausgabe seiner»Einführung in das Christentum« im Jahr 2000 zutreffend, dass davon»ein trauriges Erbe zerstörter Erde und zerstörter Seelen« zurückblieb.

Allerdings sind Marxismus und Kommunismus auch nicht wie eine Naturkatastropheüber die Menschheit gekommen. Karl Marx, seine Gesinnungsgenossen und Gefolgsleute haben auf eine dramatische Begleiterscheinung der industriellen und kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung reagiert: die soziale Ausgrenzung der sich entwickelnden Industriearbeiterschaft in den schnell wachsenden Städten. Den Industriearbeitern ging es in wirtschaftlicher Hinsicht nicht schlechter als Generationen von Landarbeitern in der gesamten Neuzeit. Aber im Gegensatz zu ihnen waren die Industriearbeiter nicht mehr inüberkommene soziale, moralische und kulturelle Lebensbezüge eingebettet, die trotz allen materiellen Mangels ein gewisses Maß an Halt und sozialer Identität verbürgten. Indem die in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eindrucksvoll fortschreitende bürgerliche Gesellschaft»vergaß«, die Industriearbeiterschaft auf ihrem Weg in Freiheit und Wohlstand mitzunehmen, bereitete sie auch Marx und der kommunistischen Ideologie den Weg.

Anders als den klassischen Liberalen fehlte manchen ihrer Vertreter im 19. Jahrhundert das Verständnis für die Geschichte und ein realistischer Blick auf den Menschen. Wie die Marxisten glaubten, aus der Aufhebung des Privateigentums und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel würden gleichsam naturgesetzlich tatsächliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit entstehen, meinten manche Laissez-faire-Liberale, Privateigentum und Gewerbefreiheit würden ausreichen, um nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen und sozialen Fortschritt hervorzubringen.

Diesem technizistischen Denken hat Ketteler entschieden widersprochen. Auch er ist für das Recht auf Eigentum eingetreten. Aber er hat sehr eindringlich die Notwendigkeit betont, dass die Privateigentumsordnung in eineübergreifende kulturelle Ordnung eingebunden sein muss, in der die mit dem Recht auf Eigentum verbundenen moralischen Pflichten klar vor Augen stehen.

»Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«, so steht es heute in Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes. Dieser Grundsatz unterscheidet die Soziale Marktwirtschaft, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas begründet worden ist, vom Kapitalismus mit seinem Laissez-faire-Prinzip im 19. Jahrhundert, dem eine wirkliche Ordnung fehlte. Zu diesem fundamental anderen Verständnis haben viele beigetragen: Christlich-Soziale im Gefolge Kettelers, Sozialdemokraten und auch die zu Unrecht heute viel geschmähten Neoliberalen. Denn das Neue am Neoliberalismus war ja gerade die Einsicht, dass eine lebensfähige freiheitliche Gesellschaft und Marktwirtschaft nicht dadurch entstehen, dass man den Dingen einfach ihren Lauf lässt, sondern dass man einen Rahmen schafft, der den Wettbewerb in gemeinwohldienliche Bahnen lenkt. Das ist die gemeinsame Einsicht, gleichsam der demokratische Konsens seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Freilich ließ und lässt dieser Konsens eine Menge Spielraum für den politischen Streit darüber, wie man eine Wettbewerbsordnung gemeinwohldienlich ausgestaltet.

Mit Blick auf die uns immer noch und auf absehbare Zeit wohl weiterhin beschäftigende Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise dürfen unsere Diskussionenüber Soziale Marktwirtsc