Zehnter BriefDie Marquise von Merteuil an den Vicomte von Valmont
Schmollen Sie mit mir, Vicomte? Oder aber sind Sie tot? Oder, was dem sehr ähnlich sähe, leben Sie nur noch für Ihre Präsidentin? Diese Frau, die Ihnen ›den holden Wahn der Jugend‹ wiedergegeben hat, wird Ihnen bald auch die lächerlichen Vorurteile der Jugend wiedergeben. Schon sind Sie schüchtern und unterwürfig; geradesogut könnten Sie verliebt sein. Sie verzichten ›auf Ihre glücklichen Verwegenheiten‹. So führen Sie sich denn nun also ohne Grundsätze auf, überlassen alles dem Zufall, oder vielmehr der Laune. Denken Sie nicht mehr daran, daß die Liebe, wie die Medizin,nur die Kunst, die Natur zu unterstützen, ist? Sie sehen, ich schlage Sie mit Ihren eigenen Waffen: aber ich werde mir nichts darauf einbilden; denn hier wird ja nur ein Mann geschlagen, der schon am Boden liegt. ›Sie muß sich mir geben‹, sagen Sie. Na ganz gewiß muß Sie das; drum wird sie sich auch hingeben wie die andern, mit dem Unterschied, daß sie es ungern tun wird. Aber dafür, daß sie sich schließlich gibt, ist das beste Mittel, daß man sie sich erst einmal nimmt. Diese lächerliche Unterscheidung ist wirklich eine Faselei, recht wie sie der Liebe eigen ist! Ich sage der Liebe: denn Sie sind verliebt. Anders zu Ihnen reden hieße treulos an Ihnen handeln; hieß Ihnen Ihre Krankheit verheimlichen. Sagen Sie mal, schmachtender Liebhaber: die Frauen, die Sie gehabt haben, glauben Sie, daß Sie die vergewaltigt haben? Lieber Gott, wenn man noch so große Lust hat, sich zu ergeben, und es noch so eilig hat – einen Vorwand braucht man doch; und gibt es einen bequemeren für uns als den, der uns den Schein gibt, als wichen wir der Gewalt? Für mich, ich gestehe es, gehört zum Schmeichelhaftesten ein lebhafter, gut ausgeführter Angriff, bei dem alles geordnet obwohl rasch erfolgt; der uns nie in peinliche Verlegenheit setzt, daß wir selber eine Ungeschicklichkeit wieder gutmachen müssen, aus der wir im Gegenteil hätten Gewinn ziehen sollen; der uns den Schein der Vergewaltigung noch bei dem läßt, was wir bewilligen, und uns unsere zwei Lieblingsleidenschaften zu kitzeln erlaubt: den Stolz auf unsere Verteidigung und das Vergnügen an unserer Niederlage. Ich gebe zu, dieses Talent, das seltener ist, als man glaubt, hat mir stets Vergnügen gemacht, selbst dann, wenn es nicht verführt hat, und es ist mir manchmal vorgekommen, daß ich mich einzig zur Belohnung ergeben habe. So überreichte bei unsern früheren Turnieren die Schönheit der Tapferkeit und Geschicklichkeit den Preis.
Sie aber, der Sie nicht mehr Sie sind, Sie führen sich auf, als wäre Ihnen bange vor dem Gelingen. Also bitte, seit wann rücken Sie in kleinen Tagesmärschen vor und auf Querwegen? Lieber Freund, wenn man hinkommen will: Postpferde und die Landstraße! Doch lassen wir diese Sache, die mich um so mehr verstimmt, als sie mich des Vergnügens beraubt, Sie zu sehen.
Wenigstens schreiben Sie mir öfter als bisher und halten Sie mich über Ihre Fortschritte auf dem laufenden. Wissen Sie, daß dies lächerliche Abenteuer Sie jetzt schon über vierzehn Tage lang beschäftigt und daß Sie sich um keinen Menschen kümmern?
Bei ›sich nicht kümmern‹ fällt mir ein: Sie sind wie die Leute, die regelmäßig bei ihren kranken Freunden nach dem Befinden fragen lassen, sich die Antwort aber nie sagen lassen. Am Schluß Ihres vorigen Briefes fragen Sie mich, ob der Ritter tot ist. Ich antworte nicht, und Sie beunruhigen sich weiter nicht darüber. Wissen Sie nicht mehr, daß mein Liebhaber Ihr geborener Freund ist? Doch beruhigen Sie sich, er ist nicht tot, oder wenn schon, wäre er’