Holunderblüte
Eine Erinnerung aus dem »Hause des Lebens«
Ich bin Arzt, ein alter Praktiker und sogar Medizinalrat. Seit vier Jahren besitze ich die dritte Klasse des Roten Adlerordens; dem Jahrhundert schreite ich um einige Jahre voran und stehe deshalb dem biblischen Lebenspunktum ziemlich nahe. Ich war verheiratet; meine Kinder sind gut eingeschlagen; die Söhne sind auf ihre eigenen Füße gestellt, meine Tochter hat einen guten Mann. Über mein Herz und meine Nerven habe ich mich nicht zu beklagen, sie bestehen aus zähem Material und halten gut bei manchen Gelegenheiten, wo andere Leute ihren Gefühlen nicht mit Unrecht unterliegen. Wir Ärzte werden, sozusagen, innerlich und äußerlich gegerbt, und wie wir unempfindlich werden gegen den Ansteckungsstoff der Epidemien, so hindert uns nichts, inmitten des lauten Schmerzes und der stummen Verzweiflung den ergebenen und gelassenen Tröster zu spielen. Jedermann soll seine Pflicht tun, und ich übe hoffentlich die meinige nach bestem Vermögen. Das sind schlechte Doktoren, die da glauben, daß ihre Aufgabe gelöst sei, wenn sie in ihrer Krankenliste ein Kreuz oder irgendein anderes Zeichen hinter dem Namen eines Patienten gemacht haben. Unsere schwierigste Aufgabe beginnt sehr oft dann erst; wir, deren Kunst und Wissenschaft sich so machtlos erwiesen, wir, die wir so oft von den Verwandten und Freunden unserer Kranken nicht mit den günstigsten und gerechtesten Augen angesehen werden, wir sollen noch Worte des Trostes für diese Freunde und Verwandten haben. Die Stunden und Besuche, welche wir, nachdem der Sarg aus dem Hause geschafft ist, den Uberlebenden widmen müssen, sind viel peinlicher als die, welche wir am Lager des hoffnungslosen Kranken zubrachten.
Doch das hat eigentlich nichts mit diesen Aufzeichnungen zu tun; ich will nur an einem neuen Beispiele zeigen, welch ein wunderliches Ding die menschliche Seele ist. Nicht ohne guten Grund überschreibe ich dieses Blatt: Holunderblüte; der Leser wird bald erfahren, was für einen Einfluß Syringa vulgaris auf mich hat.
Es war ein klarer, kalter Tag im Januar; die Sonne schien, der Schnee knirschte unter den Füßen der Wanderer, die Wagenräder drehten sich mit einem pfeifenden, kreischenden Ton. Es war ein gesunder, herzerfrischender Tag, und ich holte noch einmal aus voller Brust Atem, ehe ich um die dritte Nachmittagsstunde die Türglocke eines der ansehnlichsten Häuser in einer der ansehnlichsten Straßen der Stadt zog.
Ich wußte, was ich tat, wenn ich so viel Lebensfrische als möglich in dieses stattliche Haus mit hineinzunehmen trachtete. Und doch lag darin kein Schwerkranker und kein Leichnam; ich hatte darin weder Rezepte zu schreiben, noch hatte ich darin mit dem Seziermesser zu tun.
Nicht lange brauchte ich vor der Türe zu warten; ein alter Diener mit einem kummervollen Gesicht öffnete mir und neigte stumm grüßend den Kopf. Ich schritt durch die kalte, weite Halle, ich stieg die breite Treppe hinauf – langsam, Stufe für Stufe.
In den letzten Zeiten war ich sehr häufig diese Treppe hinaufgestiegen – zu jeder Stunde des Tags, zu jeder Stunde der Nacht. Oben auf dem Eckpfosten der Brüstung stand ein schöner Abguß jener sinnenden Muse, die, so anmutig in ihre Schleier gewickelt, das Kinn mit der Hand stützt. Wenn die große Stadt schlief, wenn das Licht der Lampe, welche mir der alte Diener tief in der Nacht vorantrug, auf dieses weiße Bild fiel, hatte ich es im Vorübergehen fest angeblickt und versucht, etwas von der hohen, ewigen Ruhe dieser Statue mit hinter die Tür zu nehmen, wo – – – doch das war ja vorüber, das Fieber hatte gesiegt, der Sarg mit der jungfräulichen Krone auf dem weißen Atlaskissen war diese Treppe herabgetragen, vorüber an dieser se