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Ich frage mich oft, was geschehen wäre, wenn ich meiner Mutter den zweiten Brief nicht gegeben hätte. Wenn ich ihn in kleine Stücke zerrissen oder verbrannt hätte. Vielleicht wären wir dann heute noch Kohlstraßer und meine Mutter wohnte immer noch in unserem kleinen Fachwerkhaus mit der grauen Schieferfront und den grünen Fensterläden. In Elberfeld im Wuppertal. Ich wäre wahrscheinlich schon verheiratet wie Trude, ein Kind und das zweite unterwegs.
Vermutlich wäre Mutter noch am Leben.
Wenn ich den Brief damals weggeworfen hätte.
Sie hat sich nur meinetwegen auf die Sache eingelassen. Wegen dieser dummen Lügengeschichte, die ich ihr damals aufgetischt hatte. Sie muss nächtelang wach gelegen und darüber nachgegrübelt haben, ob wir es tun sollten. Oder lieber nicht.
In der einen Waagschale lag die Kohlstraße.
In der anderen lag ich. Meine Zukunft, mein Schicksal. Ich wog ganz offensichtlich schwerer, deshalb sind wir aufgebrochen.
Die Kohlstraße? Ihre Zukunft? Ihr Schicksal? Wer soll denn einen solchen Wirrwarr verstehen, würde Fräulein Hülshoff jetzt bestimmt fragen, wenn sie diese Zeilen lesen könnte. Warum erzählen Sie nicht alles hübsch ordentlich der Reihe nach?
Als ob das so einfach wäre. Mein Leben, hübsch der Reihe nach. Aber gut, ich will es zumindest versuchen.
Meine Geschichte beginnt am 27. Oktober 1899. An dem Morgen, als der zweite Brief kam.
»Schon wieder Post aus Afrika«, sagte Jupp, unser Postbote, der die Briefe am liebsten nicht nur ausgetragen, sondern gleich gelesen hätte, aber das verboten ihm seine Ehre und das preußische Postrecht.
»Na so was«, sagte ich und versuchte, dabei so gleichgültig auszusehen, als wäre ein Brief aus Afrika für mich wirklich ganz alltäglich. Als er weg war, schnupperte ich an dem Umschlag. Man müsste doch irgendetwas riechen! Etwas Süßes, Scharfes, Würziges, Blumiges, Wildes oder Exotisches. Einen Hauch von Afrika. Aber das Kuvert roch nur nach Papier.
Ich schloss die Augen und stellte mir eine weite Steppe vor, über die weich der Wind wogte. Zwei Giraffen ästen im Grasmeer. Dahinter ein Löwe, der zum Sprung ansetzte. Die Luft zitternd vor Hitze.
»Jette!«
Die Stimme meiner Mutter hallte durch die afrikanische Steppe. Die Giraffen schreckten auf und galoppierten davon. Der Löwe verschwand im Nichts.
Ich machte die Augen wieder auf. »Ich komme ja schon.«
Die Nähstube lag im Dämmerlicht wie eine Höhle. Hinter Wäsche- und Kleiderbergen saß meine Mutter am Fenster, über eine Damenbluse gebeugt. Die Nadel in ihrer Hand tauchte in den weißen Stoff ein und ein paar Millimeter dahinter wieder auf, ein, auf, ein, auf, ohne dass meine Mutter den Faden zwischendurch straffte. Erst am Ende würde sie alles festziehen, eine perfekte Linie aus gleich langen Stichen. Wie der weiße Scheitel, der sich durch ihr straff nach hinten gekämmtes Haar zog.
»Da ist wieder ein Brief aus Afrika gekommen.«
Wie ich mir wünschte, dass sie aufgeregt aufgesprungen wäre!Was, aus Afrika, gib sofort her! Aber stattdessen – keine Regun