: Robert Spaemann
: Schritte über uns hinaus II (Schritte, Bd. 2) Gesammelte Reden und Aufsätze II
: Klett-Cotta
: 9783608101867
: Schritte
: 1
: CHF 21.80
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: Philosophie: Antike bis Gegenwart
: German
: 347
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wir tun niemals einen Schritt über uns hinaus«, so charakterisierte David Hume pointiert die »moderne Weltanschauung«, deren Schattenseiten Robert Spaemann entfaltet. Meisterhaft setzt er dieser Haltung Kunst und Kultur, Philosophie und Religion entgegen. Sie geben uns im Leben, in der Welt und zu unseren Mitmenschen Orientierung und Halt. Anders gesprochen: Wir können gar nicht anders, als uns zu überschreiten - und damit letztlich auch das Dogma der Moderne.

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.

Über die Bedeutung der Worte »ist«,
»existiert« und »es gibt«


 

 

 

 

(1980/81)

1. Heidegger: Die Frage nach dem Sein
und ihre Bedeutung


Vor einer Erörterung der Frage, was wir denn mit den Worten »ist«, »existiert«, und »es gibt« meinen, und vor der Suche nach einem Leitfaden zur Beantwortung dieser Frage sollte man versuchen, sich erstens darüber zu verständigen, was die Frage eigentlich meint, d. h. was man eigentlich zu wissen wünscht, wenn man so fragt. Um sich darüber zu verständigen, ist es zweitens notwendig, sich klar darüber zu werden, warum man sich diese Frage stellt. Und schließlich wäre zu fragen, unter welchen Umständen wir bereit wären, eine Antwort als zufriedenstellende Antwort gelten zu lassen.

Was die Verständigung über die Bedeutung der Frage betrifft, so wäre natürlich jetzt eigentlich zunächst zu erörtern, was wir überhaupt wissen wollen, wenn wir fragen, was jemand meint, wenn er etwas sagt, insbesondere was er mit bestimmten Worten meint. Ich will das jetzt nicht im Allgemeinen erörtern, sondern nur in Bezug auf unser Thema. Und da stellt sich natürlich die Frage: Mit Hilfe welcher Worte will man ein Wort erklären, dessen Gebrauch uns allen geläufig ist, und dessen Bedeutung – wie Aristoteles sagt – die allerbekannteste ist?1 Was können wir eigentlich zu verstehen hoffen, wenn wir nicht immer schon verstanden haben, was das Wort »ist« bedeutet und was ein Kind wissen will, wenn es fragt, ob es Einhörner wirklich gibt, oder was derinsipiens des Psalmisten meint, wenn er sagt,non est Deus? Was wollen wir eigentlich wissen, wenn wir fragen, was hier »ist« eigentlich heißt? Warum stellen wir die Frage? Warum haben die Griechen sie gestellt? Und: Haben sie sie überhaupt gestellt? In dem Sinne, in dem wir sie stellen? Heidegger hat bekanntlich mit Bezug auf die Bedeutung des Wortes »Sein« folgende Thesen vertreten:2

 

a. Die Selbstverständlichkeit der Bedeutung des Wortes »Sein« beruht auf einem Vergessen, nämlich auf dem Vergessen eines ursprünglichen Reichtums an Konnotationen, der überhaupt erst so etwas wie einen Verstehenshorizont eröffnete. Unser durchschnittlicher Seinsbegriff ist ein aufs Äußerste – nämlich auf das bloße »Vorhandensein« – reduzierter. Diese Selbstverständlichkeit dessen, was Vorhandensein meint, beruht allerdings darauf, dass es hier gar nichts mehr zu verstehen gibt. Wie kann das sein, dass etwas ganz selbstverständlich und ganz unverständlich ist? Die Antwort Heideggers ist: Beim Begriff des Vorhandenseins handelt es sich um dascaput mortuum einer Verstehens- und Vergessensgeschichte. Ziel der Heidegger’schen Bemühung ist die Aufklärung dieser Geschichte, Anamnesis. Dies geschieht durch eine Hermeneutik desjenigen Seienden, das vom Sein spricht und nach der Bedeutung dieser Rede fragt, weil diese Bedeutung der Vergessenheit anheimgefallen ist.

b. Heideggers zweite These ist: Die Geschichte dieses Vergessens ist alt. Zwar schwingen bei den Griechen noch ursprüngliche Konnotationen des Wortes mit, aber gerade sie werden nicht thematisch. Die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes thematisiert, ist zugleich von Anfang an eine Verdrängung des ursprünglich Gemeinten. Sie fragt eigentlich nie nach dem, was es heißt, dass etwas ist, sondern sie fragt nach dem, was allen Seiend