: John Düffel
: Goethe ruft an Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832185688
: 1
: CHF 7.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es gibt zwei Sorten von Schriftstellern: die strahlenden Zauberer und die erfolglosen Zweifler. Der Erzähler von John von Düffels neuem Roman gehört zweifellos zu den Erfolglosen. Seit Jahren schon sitzt er »an etwas Größerem«. Doch er hat einen Förderer: Goethe. Der heißt natürlich nicht wirklich so - doch wenn irgendjemand heute Goethes Format hat, dann er. Ein Klassiker zu Lebzeiten, ein Literaturgott. Seine Lesungen gleichen Messen. Oder Rockkonzerten. Goethe überredet den Freund, ihn bei einer Veranstaltung in der Lausitz zu vertreten. Seine Assistentin bringe ihm den Ordner mit den Unterlagen gleich vorbei, der alles enthalte, was zum erfolgreichen Schreiben nötig sei. Aber Vorsicht: Es ist sein einziges Exemplar. So kommt der Erzähler in den Besitz der Goethe-Formel. Und macht gleichzeitig die Bekanntschaft von Frau Eckermann. Sind Formel und Frau bei ihm in guten Händen?>Goethe ruft an< erzählt die ebenso rasante wie charmante Jagd nach dem Geheimnis des Erfolgs - und nähert sich darin auf augenzwinkernde Weise dem Schnittpunkt von Lesen und Leben.

JOHN VON DÜFFEL wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a.>Vom Wasser< (1998),>Houwelandt< (2004),>Wassererzählungen< (2014),>Klassenbuch< (2017),>Der brennende See< (2020),>Wasser und andere Welten< (Neuausgabe 2021),>Die Wütenden und die Schuldigen< (2021) und zuletzt
10 Der vierte Tag (S. 166-167)

Kein Wecker klingelt, niemand klopft oder ruft an. Es ist halb zehn, und ich bin auf dem Weg zur Leichtschreib-Übung, ohne Eile und Verzug, schlendere vorbei an dem frühstücksleeren Pool, den noch unbesetzten Liegestühlen am Beckenrand, der Morgensonne, die sich im glatten Wasser spiegelt. Auf einmal fällt es mir unendlich leicht, pünktlich zu sein. Ich bin der Erste unter dem Sonnensegel im Garten. Nur das Hotelpersonal war schon da, hat den Tisch hergerichtet, die Stühle bereitgestellt, auch den von Schwamm, was mich nicht weiter beunruhigt.

Denn sogar ihm, seinem Kritikerblick, seiner Vernichtermiene fühle ich mich heute gewachsen. Ich habe keine Angst mehr vor irgendwem. Die Mappe, die ich unterm Arm trage, hat ein beachtliches Gewicht. Mit welchenÜbungen Goethe seinerzeit Leichtschreiben gelehrt hat, weiß ich nicht. Doch ich kann jetzt von mir behaupten zu wissen, wie es geht– aus eigener Erfahrung. Ich habe es geschafft, ohne ihn, ohne seine Instruktionen und Ratschläge, seine Vor- und Denkschriften. Ich habe die ganze Nacht durchgeschrieben, die Seiten gefüllt, ohne abzusetzen, ohne nachzulassen oder müde zu werden, im Gegenteil, je später die Nacht, je früher der Morgen, desto wacher und klarer wurde ich. Ich habe mich zum Licht geschrieben, leichtschreibend, leuchtschreibend.

Und wie durch ein Wunder bin ich immer mehr geworden mit jedem Satz, jeder Seite, immer mehr ich selbst. Insofern kann ich Hedwig nur dankbar sein für die Nötigung, Goethes Manuskript zu fälschen. Ohne sie– ohne die Aussicht auf sie– hätte ich es nicht gewagt. Sie war die Muse meines Plagiats, meine Kopisten-Inspiration, die süße Verführung zu»wechselseitiger Befruchtung« und einem polygamen Umgang mit geistigem Eigentum.

Nie hätte ich mich sonst so hemmungslos auf Goethe gestürzt, nie seine Art zu denken und zu schreiben so ganz und gar kopiert. Bis es auf einmal»klick« gemacht hat und mir klar wurde, dass ich das Original jaüberhaupt nicht kenne, dass ich ein Fälscher bin ohne Vorlage und dass alles, was ich kopiere, jeder Satz, jeder Gedanke, von mir ist. Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Goethe, den ich die ganze Zeit kopiere, bin ich selbst!