: Sigmund Freud
: Angela Richards
: Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104001685
: Gesammelte Werke in 18 Bänden mit einem Nachtragsband
: 1
: CHF 75.00
:
: Psychoanalyse
: German
: 905
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die siebzehn Textbände der ?Gesammelten Werke? Sigmund Freuds, der bisher umfassendsten Edition des Oeuvres in der Originalsprache, sind zuerst zwischen 1940 und 1952 in Freuds Londoner Exilverlag erschienen, ehe S. Fischer sie 1960 übernahm. Aus verschiedenen Gründen fehlten gleichwohl wichtige Stücke des psychologisch-psychoanalytisc en Werks. Einige Beispiele: die Beiträge Josef Breuers zu den ?Studien über Hysterie? (auf Freuds eigenen Wunsch); der frühe ?Entwurf einer Psychologie? (posthum zunächst im Rahmen der Fließ-Briefe veröffentlicht); die aufschlußreichen Notizen aus der Behandlung des als »Rattenmann« bekanntgewordenen Patienten (erstmals in den fünfziger Jahren erschlossen); der erst 1983 entdeckte Entwurf der zwölften metapsychologischen Abhandlung. Diese und viele andere Stücke, vor allem aus der Pionierzeit der Psychoanalyse, sammelt der mit umfangreichen editorischen Kommentaren ausgestattete ?Nachtragsband? - ein Quellenwerk ersten Ranges.

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

{34}Hochlöbliches Professoren-Kollegium
der medizinischen Fakultät in Wien

 

In meinem Gesuche um Verleihung des Universitäts-Jubiläums-Reisestipendiums für das Jahr1885/6 habe ich die Absicht ausgesprochen, mich nach Paris in das Hospiz der Salpêtrière zu begeben, um daselbst meine neuropathologischen Studien fortzusetzen. Für diese Wahl hatten mehrere Momente zusammengewirkt: Zunächst die Gewißheit, an der Salpêtrière ein großes Material von Kranken gesammelt zu finden, welches in Wien nur zerstreut und daher schwer zugänglich ist; sodann der große Name Charcots[8], welcher in jenem Krankenhause nun seit siebzehn Jahren arbeitet und lehrt; endlich aber mußte ich mir sagen, daß ich nicht erwarten durfte, an einer deutschen Hochschule wesentlich Neues zu lernen, nachdem ich in Wien die mittelbare und unmittelbare Unterweisung der Herren Prof. Th. Meynert und H. Nothnagel[9] genossen hatte. Die französische Schule der Neuropathologie schien mir dagegen sowohl in ihrer Arbeitsweise Fremdes und Eigentümliches zu bieten als auch neue Gebiete der Neuropathologie in Angriff genommen zu haben, auf welche sich in Deutschland und Österreich die wissenschaftliche Arbeit nicht in ähnlicher Weise erstreckt hat. Infolge des wenig lebhaften persönlichen Ver{35}kehrs zwischen französischen und deutschen Ärzten hatten die teils höchst merkwürdigen (Hypnotismus), teils praktisch wichtigen (Hysterie) Funde der französischen Schule mehr Anzweiflung als Anerkennung und Glauben in unseren Landen gefunden und mußten sich die französischen Forscher, Charcot voran, oft den Vorwurf der Kritiklosigkeit oder mindestens der Hinneigung zum Studium des Seltsamen und zu dessen effektvoller Verarbeitung gefallen lassen. Nachdem mich das löbliche Professoren-Kollegium durch die Verleihung des Reisestipendiums ausgezeichnet hatte, ergriff ich daher bereitwillig die gebotene Gelegenheit, ein auf eigene Erfahrung gegründetes Urteil über die erwähnten Reihen von Tatsachen zu gewinnen, und freute mich, dabei gleichzeitig der Anregung meines verehrten Lehrers, des Herrn Prof. von Brücke[10], entsprechen zu können.

Während eines Ferienaufenthaltes in Hamburg machte das freundliche Entgegenkommen des Herrn Dr. Eisenlohr[11], des bekannten Vertreters der Neuropathologie in dieser Stadt, es mir möglich, eine größere Reihe von Nervenkranken im großen Krankenhause und im Heinespitale[12] zu untersuchen, und verschaffte mir auch Zugang in die Irrenanstalt Klein-Friedrichsberg. Die Studienreise, über welche ich hier berichte, nahm aber ihren Anfang erst mit meinem Eintreffen in Paris in der ersten Hälfte des Monats Oktober, zum Beginne des Schuljahres.

Die Salpêtrière, welche ich zunächst aufsuchte, ist ein ausgedehntes Bauwerk, das durch seine einstöckigen, im Viereck stehenden Häuser wie durch seine Höfe und Gartenanlagen lebhaft an das Wiener Allgemeine Krankenhaus erinnert. Es hat seine Bestimmungen, auf deren erste der Name hindeutet (wie bei unserer ›Gewehrfabrik‹), im Laufe der Zeiten mehrmals gewechselt[13] und ist endlich [1813] zu einem Versorgungshaus für alte Frauen (vieillesse femmes), das über fünftausend Personen beherbergt, geworden. Es lag in der Natur der Verhältnisse, daß die chronischen{36}Nervenkrankheiten eine besonders reichliche Vertretung unter diesem Krankenmateriale finden mußten, und frühere Primarärzte[14] des Versorgungshauses, z.B. Briquet[15], hatten auch die wissenschaftliche Verwertung der Kranken in Angriff genommen, doch stand einer systematisch fortgeführten Arbeit die Gepflogenheit der französischen Primarärzte im Wege, das Spital, an dem sie wirken, und damit die Spezialität, welche sie studieren, häufig zu wechseln, bis sie in ihrer Karriere in das große klinische Spital Hôtel-Dieu gelangt sind. J. M. Charcot aber, welcher im Jahre1856 Interne (Sekundarar