9.Hier sind Menschen
Keine Ahnung, wie ich es überlebt habe, aber Friedhelm und ich haben den Reißerhof erreicht, mit letzter Kraft.
Die Schwellung ist ein bisschen zurückgegangen. Nicht genug, um sorgenfrei zu sein, aber genug, um zu gehen, ohne dass es würdelos aussieht oder wie bei einem übergewichtigen Walker, der seinen Sport mit den Vorbereitungen auf die Passionsspiele verwechselt.
Wir hätten uns nicht so anstrengen müssen, denn der Hof scheint unbewohnt, obwohl er in meinen Unterlagen als einzige Anlaufstation für Eselreisende in Kleinzedlitz ausgewiesen ist. Doch was interessiert es einen Uckermärker – oder heißt das Uckermarker, das muss ich noch herausfinden –, ob jemand bei ihm Asyl sucht, nur weil es ein Reiseveranstalter in seinem Angebot so vorgesehen hat.
Friedhelm kennt sich hier aus. Natürlich, Friedhelm ist wie ein altes Zirkuspferd, immer die gleiche Runde. Jeder Eselreisennovize läuft den Reißerhof am ersten Tag an, und jeder wird sich spätestens hier die Frage stellen, was das alles soll und wann der letzte Zug von Prenzlau nach Berlin fährt oder der Bus. Beide Verbindungen scheiden jetzt aus. Wenn die Sonne versinkt, flüchtet sich auch der öffentliche Nahverkehr in Richtung Berlin in schwarze Löcher.
»Hallo, ist hier jemand?«
Friedhelm hebt den Kopf und schaut mich an.
»Außer dir.«
Friedhelm schaut sich nun auch um. Noch halte ich seinen Strick und werde ihn erst wieder loslassen, wenn Friedhelm in einem Stall steht, den er aus eigener Kraft nicht mehr verlassen kann.
»Halllooooooooo?«
Friedhelm hält sich für das einzige Hallooooooooo-Ziel in ganz Kleinzedlitz und glotzt mich schon wieder an.
»Kollege, du bist echt nicht gemeint, okay?«
War das zu hart? Keine Ahnung, in dieser blöden Anleitung steht nichts über die Sensibilität von Eseln. Friedhelm reagiert, ohne dass ich es einordnen kann. Er schubbert mit einem Mal ohne Vorankündigung sein Sabbermaul an meinem Hemd ab. Zum ersten Mal spüre ich, welche Kraft dieser Esel besitzt, denn wenn er wollte, könnte er mir den gesamten Brustkorb abschubbern. Deshalb lasse ich ihn gewähren und hoffe, dass es nur eine freundliche Geste ist, auch wenn mein Hemd nun so aussieht, als hätte sich eine komplette Kleinkindgruppe darauf ausgekotzt.
»Wer sind Sie?«
Die Stimme klingt, als käme sie aus einem alten Ölfass. Ich drehe mich und sehe zum ersten Mal Elli, die Besitzerin des Reißerhofes.
»Björn Keppler. Ich bin hier gebucht.«
»Ach.«
»Ja. Und das ist Friedhelm.«
»Weiß ich, kenn’ ich. Elli.«
»Schöner Name«, lüge ich höflich.
»Scheiß Name. Durfte ihn mir nicht selber aussuchen«, kontert Elli.
»Schön. Ja, dann …«
Ich rudere mit den Armen, was Elli nicht so recht einordnen kann. Hier auf dem Land rudert man nicht mit den Armen. Hier tut man etwas Gescheites mit den Armen oder lässt es bleiben.
»Was machen Sie da?«
»Nichts.«
Jetzt macht sie meine Bewegungen nach. Wenn Elli mit den Armen rudert, sieht es aus, als spielten zwei Strohhalme Mühle. Ich muss lachen.
»Was ist denn daran so lustig?«, fragt Elli.
»Nichts, nur so.«
»Keiner lacht nur so.«
»Entschuldigung. Ich lache, weil Sie mit den Armen rudern.«
»Sie doch auch«, ergänzt Elli. »Warum tun Sie das?«
»Das mache ich nur so, einfach so«, erkläre ic