Kapitel zwei
Nein!«
Olivia riss die Augen auf.
Ihr eigener Schrei hallte in dem kleinen Schlafzimmer wider. Der Hund gab ein scharfes »Wuff!« von sich.
»O Gott, nein.« Ihr Herz raste, ihr Körper war schweißgebadet, der lebhafte Traum stand ihr so deutlich vor Augen, als hätte sie gerade eben einen Mord beobachtet. Wieder einmal. Es war schon wieder vorgekommen.
Die Vision war verdammt echt gewesen. Der Geruch nach Rauch hing noch in ihren Nasenflügeln, in ihren Ohren tönte Orgelmusik, ihr Mund war staubtrocken, ihre Kehle rauh von dem Schrei. Heftiger Kopfschmerz breitete sich in ihrem Schädel aus.
Sie blickte auf die Uhr. Viertel nach drei. Ihre Hände zitterten, als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich.
Am Fußende des alten Bettes hob die Promenadenmischung ihrer Großmutter den Kopf und starrte sie an. Der Hund gähnte, dann bellte er ein weiteres Mal warnend.
»Komm her«, sagte Olivia und klopfte aufs Kissen. Hairy S. streckte sich. Er hatte ein zottiges, graubraun meliertes Fell mit weißen Flecken und buschige Augenbrauen, die darauf hindeuteten, dass sich in seiner Ahnenreihe ein Schnauzer befunden haben musste. Er winselte, dann kuschelte er sich in die Kissen neben Olivia. Geistesabwesend zog sie ihn näher, brauchte etwas, woran sie sich festhalten konnte. Sie zauste sein struppiges Fell und wünschte, sie könnte ihm sagen, dass alles in Ordnung war. Doch das stimmte nicht, sie wusste es. Vielleicht lag sie falsch … vielleicht war alles nur ein Traum … vielleicht … Nein, niemals. Ihr war klar, was die Bilder bedeuteten.
»Mist.«
Sie richtete sich auf.Beruhige dich. Doch sie zitterte noch immer, ihre Schläfen pochten. Hairy S. wand sich aus ihren Armen.
»Verdammt, Grannie Gin«, murmelte sie, während die Geräusche der Nacht durch das offene Fenster hereinströmten, das Rascheln des Windes in den Bäumen, untermalt vom Summen der riesigen Lastwagen auf dem in der Ferne gelegenen Freeway.
Olivia ließ den Kopf in die Hände sinken und massierte sich die Schläfen.Warum ich? Warum? Die Visionen hatten früh begonnen, doch sie waren damals unschärfer gewesen und seltener und meist dann aufgetreten, wenn ihre Mutter gerade mal bei ihnen wohnte, wenn sie gerade mal nicht verheiratet war.
Bernadette hatte nie glauben wollen, dass ihre Tochter die Gabe ihrer Großmutter geerbt hatte.
»Zufall«, hatte Bernadette Olivia oft genug erklärt, oder: »Du denkst dir das doch nur aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen! Jetzt lass das, Livvie, und hör nicht länger auf Grandma. Sie ist nicht ganz klar im Kopf, und wenn du nicht aufpasst … Hörst du?« Bernadette hatte mit scharfer Stimme gesprochen und ihre Tochter geschüttelt, als würde sie ihr damit die Absonderlichkeiten schon austreiben. »Wenn du nicht aufpasst, erwischt es dich auch, und ich spreche – anders als Grannie – nicht von dieser lächerlichen Hellseherei, sondern vom Teufel. Satan schläft nie. Hörst du? Nie!«
Einmal hatte Bernadette ihrer ältesten Tochter mit einem langen, rot lackierten Fingernagel auf die Nasenspitze getippt. Sie waren in der Küche gewesen, hier, in Grannies Haus, wo der Geruch nach Schinkenspeck, Holzrauch und billigem Parfum an den Kiefernschränken haftete. Ein Ventilator hatte neben dem uralten Toaster auf der Anrichte gestanden und die heiße Luft in dem kleinen, kargen Raum umgewälzt.
In Olivias Erinnerung war Bernadette gerade von ihrer Tagesschicht in Charlene’s Restaurant bei dem Fernfahrerrastplatz an der Interstate zurückgekehrt. Barfuß stand sie auf dem rissigen Linoleumboden, in weißer Bluse und dem allgegenwärtigen schwarzen Kellnerinnenrock. Ein Träger ihresBHs war zu sehen, außerdem ein kleines goldenes Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing und in der tiefen Spalte zwischen ihren Brüsten ruhte. »Hör mal, Kind«, hatte sie mit ernstem, eindringlichem Gesichtsausdruck gesagt. »Ich mache keinen Spaß. Der ganze Hokuspokus, das ganze Gerede über Voodoo ist nichts als Unsinn, verstehst du mich?Unsinn! Deine Großmutter bildet sich ein, irgendeine verfluchte Voodoo-Priesterin zu sein oder ähnlichen Quatsch, aber das ist sie nicht. Nur weil sich vor Ewigkeiten schwarzes Blut in unsere Linie gemischt hat, ist sie noch lange keine … keine … Hellseherin, und du bist es genauso wenig. Kapiert?«
Bernadette hatte sich aufgerichtet, ihren kurzen schwarzen Rock glatt gestrichen und geseufzt. »Natürlich ist sie das nicht«, hatte sie noch einmal wiederholt, und es hatte den Anschein, sie wolle mehr sich selbst überzeugen als Olivia. »Und jetzt geh nach draußen und dreh eine Runde auf deinem Fahrrad oder Skateboard.« Sie nahm eine offene Packung Virginia Slims von der Anrichte, schüttelte eine Zigarette heraus und zündete sie rasch an. Während ihr der Rauch aus den Nasenlöchern strömte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und griff in einen Oberschrank nach einer kleinen Flasche Whiskey.
»Mama hat Mordskopfschmerzen«, erklärte sie, suchte einen Tumbler, drückte Eiswürfel aus einer Plastikform und schenkte sich einen gesundheitsfördernden Drink ein, der, so hatte sie erklärt, gleichzeitig ihre Belohnung für einen anstrengenden Arbeitstag war, an dem sie die Anspielungen, Augenzwinkereien und gelegentlichen Kniffe in den Po von den Fernfahrern über sich hatte ergehen lassen müssen. Erst als sie einen Schluck genommen und sich mit der Hüfte gegen die Anrichte gelehnt hatte, wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. »Du bist ein merkwürdiges Kind, Livvie«, sagte sie mit einem weiteren Seufzer. »Ich liebe dich über alles, das weißt du, aber du bist anders.« Die Zigarette fest zwischen den Lippen, streckte sie die Hand aus und griff nach Olivias Kinn, drehte ihren Kopf nach links, dann nach rechts. Durch den Rauch betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen das Profil ihrer Tochter.
»Du bist ziemlich hübsch«, räumte Bernadette ein, streckte den Rücken durch und schnippte Asche ins Spülbecken. »Und wenn du dein Köpfchen benutzt und nicht diesen verrückten Quatsch von dir gibst, wirst du dir einen guten Mann angeln können, vielleicht sogar einen reichen. Verschreck sie also nicht mit deinem wirren Gerede, verstanden? Sonst nimmt dich kein anständiger Kerl.« Sie drehte das Glas mit dem Whiskey in den Händen und betrachtete die klirrenden Eiswürfel. »Glaub mir, ich weiß das.« Ein trauriges Lächeln trat auf ihre Lippen, auf denen nur noch ein Rest Lippenstift zu sehen war.
»Eines Tages, Liebling, wirst du es schaffen, dieses Loch hier gegen ein schickes Haus einzutauschen, genau wie Scarlett O’Hara.« Ihr Lächeln wurde breiter und entblößte gerade, unglaublich weiße Zähne. »Und dann wirst du dich um deine Mama kümmern, hörst du?«
Olivia seufzte, als sie sich an dieses Gespräch zurückerinnerte.O Mama, wenn du nur wüsstest! Olivia hätte alles dafür getan, die Dämonen in ihrem Innern zum Schweigen zu bringen. Doch in letzter Zeit waren die Träume, die sie zu verdrängen versucht hatte, mit aller Gewalt zurückgekehrt.
Seit sie wieder in Louisiana war.
Sie musste etwas wegen dieser Visionen unternehmen. Sie musste etwas wegen heute Nacht unternehmen.
Die Frau ist tot, Olivia. Es gibt nichts, was du für sie tun kannst, und niemand wird dir Glauben schenken. Das weißt du. Du hast bereits versucht, Kontakt mit den Behörden aufzunehmen. Du hast versucht, deine Familie, deine Freunde, sogar deinen verfluchten Verlobten zu überzeugen. Niemand hat dir geglaubt, und niemand wird dir jetzt glauben.
Außerdem war es ein Traum. Das ist alles. Nur ein Traum.
Langsam stand sie auf, ging, die Steppdecke ihrer Großmutter hinter sich herziehend, an die zweiflügelige Glastür zum Balkon und öffnete sie. Der Hund trottete hinter ihr her. Olivia trat in die kühle Luft des frühen Wintermorgens hinaus. Die Holzdielen fühlten sich glatt an unter ihren nackten Füßen. Derbayou lag still im sich langsam hebenden Nebel, und riesige Sumpfzypressen bewachten das träge, von Wasseradern durchzogene Sumpfland hinter dem Garten. Olivia legte eine Hand aufs Verandageländer, das abgerieben war von der Berührung so vieler Hände in den vergangenen hundert Jahren. Irgendein Geschöpf der Dunkelheit trippelte durchs Gebüsch, brachte trockene Blätter...