1. KAPITEL
Laut dem Detektiv, den er engagiert hatte, sollte er die Geliebte seines Vaters genau hier finden. Raul Carducci stieg aus seiner Limousine und sah den Kai des kleinen englischen Fischerdörfchens hinunter.Nature’s Way – Natürliche Lebensmittel und Kräuterheilkunde. Das Geschäft lag zwischen einer Eisdiele und einem winzigen Geschenkladen, die beide geschlossen hatten. Und dem äußeren Anschein nach würden sie auch bis zum Beginn der Sommersaison geschlossen bleiben …
Vom bleigrauen Himmel nieselte es unablässig herab, und Raul schlug sich mit grimmiger Miene den Mantelkragen hoch. Je eher er nach Italien zurückkehren konnte, wo die Frühlingssonne bereits das tiefblaue Wasser desLago Bracciano erwärmte, desto besser. Aber er war nach Pennmar gekommen, um Pietro Carduccis letzten Willen zu erfüllen. Darum lenkte er seine Schritte entschlossen in Richtung der einzigen Ladenfassade, die für den Publikumsverkehr geöffnet zu sein schien.
Libby war so in die Jahresbilanz vonNature’s Way vertieft, dass es einige Sekunden dauerte, bis das zarte Klimpern des Windspiels über der Tür an ihr Ohr drang.
Ein eher seltenes Geräusch in der Winterzeit, dachte sie mit leichtem Bedauern und betrachtete die roten Zahlen auf den Abrechnungsbögen. Nach der letzten Saison hatten die Gäste Pennmar recht frühzeitig verlassen, und mittlerweile war das kleine Reformhaus nahezu bankrott.
Einen Laden dieser Art in einem Dorf an Cornwalls Küste zu eröffnen, war eine der haarsträubendsten Ideen von Libbys Mutter gewesen. Das kleine Erbe der Großmutter war schnell aufgebraucht. Libbys Mutter aber hatte standhaft an den Erfolg ihres Geschäfts geglaubt.
Der Gedanke an Liz verursachte den vertrauten, ziehenden Schmerz in Libbys Brust. Aber für Melancholie blieb keine Zeit. Ein Kunde wartete auf sie, also schob sie energisch den Vorhang zur Seite, der den kleinen Büroraum vom Rest der unteren Etage abtrennte.
Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr, und seine breiten Schultern kamen in dem edlen hellen Mantel auffallend gut zur Geltung. Er ließ seinen Blick rastlos über die Auslagen schweifen, und bei jedem seiner Schritte befürchtete Libby, er würde mit dem Kopf gegen die niedrige Decke stoßen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigte sie sich fröhlich, doch ihr Lächeln verschwand, als der Fremde sich auf dem Absatz umdrehte und sie finster anblickte. Sofort begriff sie, dass hier kein gewöhnlicher Tourist vor ihr stand. Um genau zu sein, war nichts an dieser maskulinen Erscheinung gewöhnlich!
Seine zurückgekämmten Haare waren so pechschwarz wie die Flügel eines Raben, und die bronzefarbene Haut glänzte im gedämpften Licht des Ladens wie Seide. Fasziniert musterte Libby seine Gesichtszüge: eine hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen, ein energisches Kinn und sinnlich geschwungene Lippen. Er war ohne Übertreibung der umwerfendste Mann, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Libby konnte den Blick gar nicht mehr von ihm abwenden und errötete, als seine Augen sich verengten und er seinerseits ihre Erscheinung abschätzend musterte. Ein purpurner, gemusterter Rock und ein giftgrünes Top schienen nicht zu seinen bevorzugten modischen Kombinationen zu gehören – der Fremde schüttelte sich praktisch innerlich vor Abscheu. Jedenfalls war das Libbys Eindruck.
Und sie lag vollkommen richtig. Raul bevorzugte tatsächlich stilvolle, elegante Frauen und hatte für exzentrischen Hippieschick nicht das Geringste übrig. Allerdings war das Mädchen, das hinter dem Verkaufstisch stand, ausgesprochen hübsch. Ihr zartes, strahlend schönes Gesicht wurde von einer leuchtend roten Lockenmähne umrahmt, und Nase und Wangen zierten hübsche kleine Sommersprossen.
Doch am meisten beeindruckten ihn die strahlenden blaugrünen Augen, von langen, dunklen Wimpern umrahmt, die ihn intelligent und aufmerksam ansahen. Ihr rosaroter Kussmund war leicht geschürzt, so als fragte sie sich im Stillen, warum Raul sich wohl in ihren Laden verirrt hatte.
Solche Lippen muss man küssen, dachte er automatisch und wunderte sich über seine eigenen Gedanken. Wahrscheinlich erfasste er nur, wie attraktiv diese junge Frau aussehen könnte, würde sie ein vernünftiges Designerkleid tragen.
Raul biss die Zähne zusammen. Er musste sich mit der Geliebten seines Vaters beschäftigen, nicht mit diesem fremden Mädchen. Ganz gleich, wie einladend ihr Schmollmund