: Henry Miller
: Sexus
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644010819
: 1
: CHF 11.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 688
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Unbekümmert um alle moralischen und formalen Schranken und mitgerissen von der Sturzflut der Erinnerung, hat Miller in diesem «obszönsten seiner Bücher» (New York Times) ein Stück seines turbulenten Lebens aufgearbeitet: «Sexus» ist ein orgiastischer Hymnus auf die körperliche Liebe und ein befreites Leben, Zeugnis einer Aufrichtigkeit, die keine Kompromisse kennt. «Der Roman ist natürlich die schamloseste und schönste Kundmachung eines hemmungslosen, genüsslich antigesellschaftlichen Individualismus, die in diesem Jahrhundert vorgelegt wurde.» WELTWOCHE «Henry Miller: geil, obszön, diabolisch.» HAMBURGER ABENDBLATT

Henry Miller, der am 26. Dezember 1891 in New York geborene deutschstämmige Außenseiter der modernen amerikanischen Literatur, wuchs in Brooklyn auf. Die Dreißiger Jahre verbrachte Miller im Kreis der «American Exiles» in Paris. Sein erstes größeres Werk, das vielumstrittene «Wendekreis des Krebses», wurde - dank des Wagemuts eines Pariser Verlegers - erstmals 1934 in englischer Sprache herausgegeben. In den USA zog die Veröffentlichung eine Reihe von Prozessen nach sich; erst viel später wurde das Buch in den literarischen Kanon aufgenommen. Henry Miller starb am 7. Juni 1980 in Pacific Palisades, Kalifornien.

Erstes Buch


1


Es muss ein Donnerstagabend gewesen sein, als ich ihr zum ersten Mal in jenem Tanzpalast begegnete. Ich ging am Morgen nach ein paar Stunden Schlaf zur Arbeit und sah aus wie ein Nachtwandler. Der Tag verging wie im Traum. Nach dem Abendessen schlief ich auf der Couch ein und erwachte, noch immer in meinen Kleidern, gegen sechs am nächsten Morgen. Ich fühlte mich erstaunlich ausgeruht, unbeschwerten Gemüts und einzig und allein von dem Gedanken besessen, dass ich sie um jeden Preis haben musste. Als ich durch den Park ging, beschäftigte mich die Überlegung, was für Blumen ich ihr mit dem Buch, das ich ihr versprochen hatte (Sherwood Andersons,‹Winesburg, Ohio), schenken sollte. Ich näherte mich dem dreiunddreißigsten Lebensjahr, dem Alter, in dem Christus gekreuzigt wurde. Ein ganz neues Leben lag vor mir, wenn ich nur den Mut hatte, alles zu riskieren. Aber es gab nichts zu riskieren: Ich befand mich auf der untersten Sprosse der Leiter, ein Versager in jedem Sinne des Wortes.

Es war damals ein Samstagmorgen, und für mich ist Samstag immer der beste Tag der Woche gewesen. Ich werde lebendig, wenn andere vor Müdigkeit einschlafen. Meine Woche beginnt mit dem jüdischen Ruhetag. Dass dies die große Woche meines Lebens sein würde, die sieben lange Jahre währte, ahnte ich natürlich nicht. Ich hatte nur das Gefühl, dass ein viel versprechender und ereignisreicher Tag vor mir lag. Den schicksalhaften Schritt zu tun und alles zum Teufel gehen zu lassen, hat an sich schon etwas Befreiendes: Über mögliche Folgen habe ich mir nie den Kopf zerbrochen. Sich bedingungslos der Frau auszuliefern, die man liebt, heißt, alle Fesseln abzustreifen, außer dem Verlangen, sie nicht zu verlieren – die schrecklichste aller Fesseln.

Ich verbrachte den Morgen damit, Gott und die Welt anzupumpen, schickte das Buch und die Blumen ab und setzte mich dann hin, um einen langen Brief zu schreiben, den ich durch Boten zustellen ließ. Ich schrieb, dass ich sie am Spätnachmittag anrufen würde. Um zwölf Uhr verließ ich das Büro und ging nach Hause. Ich war schrecklich ruhelos, fiebernd vor Ungeduld. Bis fünf Uhr zu warten, war eine Qual. Ich begab mich wieder in den Park. Teilnahmslos und wie blind wanderte ich über die Wiesen bis zu dem See, auf dem die Kinder ihre Boote segeln ließen. In der Ferne spielte eine Kapelle. Sie rief mir Erinnerungen an meine Kindheit ins Gedächtnis zurück, verschüttete Träume, Sehnsüchte, Gedanken der Reue. Ein leidenschaftlicher Aufruhr pulste heiß in meinen Adern. Ich dachte an gewisse große Gestalten der Vergangenheit, an alles, was sie in meinem Alter vollbracht hatten. Was immer ich erstrebt haben mochte, war bedeutungslos geworden: Ich war nur noch von dem Wunsch besessen, mich ihr völlig auszuliefern. Vor allem wollte ich ihre Stimme hören, wollte wissen, dass sie noch am Leben war, mich nicht bereits vergessen hatte. Ich wollte von nun an jeden Tag eine Münze in den Schlitz werfen können, um ihre Stimme «hallo» sagen zu hören, das und nichts anderes war das Höchste, was ich mir zu erhoffen wagte. Wenn sie bereit war, mir das zu gewähren, und es auch wirklich tat, mochte geschehen, was wolle.

Punkt fünf rief ich sie an. Eine seltsam traurige, fremdartige Stimme erklärte mir, sie sei nicht zu Hause. Ich wollte mich erkundigen, wann sie zurückkäme, aber da war die Verbindung schon unterbrochen. Der Gedanke, dass sie unerreichbar war, machte mich rasend. Ich rief meine Frau an und sagte ihr, dass ich zum Abendessen nicht nach Hause käme. Sie nahm es wie üblich angewidert zur Kenntnis, als erwarte sie ohnehin von mir nur Enttäuschungen und Vertröstungen. «Erstick dran, du Miststück», dachte ich bei mir, als ich den Hörer auflegte, «so viel steht fest: Du kannst mir tot oder lebendig gestohlen bleiben.» Ich sprang auf den nächstbesten Trolleybus, der daherkam, und ließ mich auf einen der hinteren Sitze fallen. Zwei Stunden lang fuhr ich in tiefer Trance durch die Stadt. Als ich wieder zu mir kam, hielten wir gerade vor einer arabischen Eisdiele in der Hafengegend, und ich sprang ab. Ich setzte mich dicht beim Wasser auf einen Poller und blickte zu dem summenden Stahlnetzwerk der Brooklyn-Brücke empor. Es waren noch mehrere Stunden totzuschlagen, bevor ich daran denken konnte, den Tanzpalast wieder aufzusuchen. Leeren Blickes starrte ich auf das gegenüberliegende Ufer, während meine Gedanken ziellos wie ein Schiff ohne Ruder dahintrieben.

Als ich mich schließlich aufraffte und losstolperte, kam ich mir vor wie ein Narkotisierter, dem es gelungen ist, dem Operationstisch zu entfliehen. Alles sah vertraut aus und gab doch keinen Sinn. Es dauerte Ewigkeiten, ein paar simple Eindrücke zu verarbeiten, die bei klarem Bewusstsein automatisch die Vorstellung Tisch, Stuhl, Haus, Person auslösen. Ihrer Automation beraubte Gebäude sind sogar noch trostloser als Gräber. Wenn die Maschinerie stillsteht, verbreitet sie eine Leere, die noch unheimlicher ist als der Tod. Ich war ein Gespenst, das sich in einem Vakuum bewegte. Hinsetzen, verweilen, eine Zigarette anzünden, nicht hinsetzen, nicht rauchen, denken oder nicht denken, atmen oder aufhören zu atmen – es war alles ein und dasselbe. Falle tot um, der hinter dir steigt über dich hinweg. Feuere einen Revolver ab, und ein anderer schießt auf dich. Schreie, und du weckst die Toten auf, die merkwürdigerweise auch kräftige Lungen haben. Der Verkehr geht jetzt nach Ost und West, im nächsten Augenblick wird er nach Nord und Süd gehen. Alles bewegt sich blind und gesetzmäßig fort, und niemand gelangt irgendwohin. Schlurfen und stolpern herein und heraus, hinauf und hinunter, manche scheren aus wie Fliegen, andere fallen ein wie ein Mückenschwarm. Iss im Stehen, Münzeinwurf, Hebelbedienung, fettverschmierte Fünf-Cent-Stücke, fettverschmiertes Cellophan, fettverschmierter Appetit. Wisch dir über den Mund, rülpse, stochere in den Zähnen, schieb den Hut zurück, trotte los, rutsche aus, stolpere, pfeife, knall dir eine Kugel in die Birne. Im nächsten Leben möchte ich ein Geier sein und mich von reichem Aas ernähren. Ich werde hoch oben auf den Häusern hocken und blitzschnell herabstoßen, sobald ich den Tod wittere. Jetzt pfeife ich lustig vor mich hin – in den epigastrischen Zonen herrscht Ruhe und Frieden.Hallo, Mara, wie geht’s dir? Und sie wird mir ihr rätselhaftes Lächeln schenken und mich stürmisch in ihre Arme schließen. Grelles Scheinwerferlicht wird uns inmitten der Leere in einen mystischen Kreis tauchen und uns mit drei Zentimeter Intimität umgeben.

Ich gehe die Treppe hinauf und betrete die Arena, den großen Ballsaal der käuflichen Sexadepten, den jetzt ein warmes Boudoir-Licht durchflutet. Die Phantome drehen sich in einem süßlichen Kaugummi-Dunst, Knie leicht gebeugt, Hintern gespannt, Fußknöchel im pudrigen Saphirlicht schwimmend. Zwischen Trommelschlägen höre ich unten auf der Straße die Sirene des Rettungswagens, dann die der Feuerwehr und schließlich die des Überfallkommandos. Der Walzer wird schmerzlich perforiert, kleine Schusslöcher hüpfen über die Mechanik des elektrischen Klaviers, dessen Spiel im Lärm ertrinkt, denn es steht mehrere Blocks entfernt in einem Gebäude ohne Feuerleitern. Sie ist nicht auf der Tanzfläche. Vielleicht liegt sie im Bett und liest ein Buch oder treibt es mit einem Preisboxer oder läuft wie eine Wahnsinnige über ein Stoppelfeld, hat einen Schuh verloren, den anderen noch an, von einem Mann namens Corn Cob hitzig verfolgt. Wo immer sie sein mag, ich stehe in völliger Dunkelheit – ihre Abwesenheit löscht mich aus.

Ich erkundige mich bei einem der Mädchen, ob sie weiß, wann Mara kommt.Mara? Nie von ihr gehört. Wie kann sie auch irgendetwas über irgendjemand wissen, da sie doch erst vor knapp einer Stunde ihre Arbeit hier aufgenommen hat und schwitzt wie eine Stute, die in sechs Garnituren schafwollener Unterwäsche steckt? Ob ich nicht mit ihr tanzen will – sie wird dann eines der anderen Mädchen nach dieser Mara fragen. Wir tanzen ein paar Runden, in einem Dunst von Schweiß und Rosenwasser. Das Gespräch dreht sich um Hühneraugen, entzündete Fußballen und Krampfadern. Die Musiker plieren durch den Boudoir-Nebel mit Gallertaugen, die Gesichter ein gefrorenes Grinsen. Das Mädchen dort drüben, Florrie, kann mir vielleicht etwas über meine Freundin sagen. Florrie hat einen breiten Mund und Augen wie Lapislazuli. Sie ist spröde wie eine Geranie, kommt gerade von einer Fick-Fiesta, die den...