2. KAPITEL
Das war also Venedig! Kathryn sah sich gespannt um, als das Schiff in der großen Lagune vor Anker ging. Sie waren zu weit außerhalb, um die Küste genau erkennen zu können, aber die großen Paläste der reichen Händler und Adligen glänzten im Licht der Sonne, und das Wasser des Adriatischen Meeres schwappte über die Stufen, neben denen an Holzpfählen leuchtend bunte Gondeln vertäut waren.
„Wie gefällt dir Venedig, mein Kind?“, fragte Lady Mary, als sie neben das Mädchen trat. „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“
„Es ist wunderschön. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich habe ein Pastell vom Canale Grande und den umliegenden Palazzi gesehen. Aber die Wirklichkeit übertrifft die Vorstellungskraft des Künstlers bei Weitem. Diese Paläste scheinen beinahe zu schwimmen.“
Lady Mary lachte. Sie war eine kräftig gebaute, gutmütige Dame, die in ihrer Jugend hübsch ausgesehen haben musste – noch jetzt waren ihre schönen Gesichtszüge zu erkennen. Ihr warmes Lächeln war voller Zuneigung, hatte sie Kathryn während der Reise doch sehr ins Herz geschlossen. Einige Monate waren sie schon miteinander unterwegs, hatten zusammen das Jahr 1571 erlebt, und inzwischen war der Frühling gekommen. In England, davon konnte man ausgehen, herrschten sicherlich noch sehr kühle Temperaturen, aber hier war es viel wärmer, und die Sonne färbte das Wasser leuchtend blau.
„Ja, die Stadt übt eine magische Anziehungskraft aus, nicht wahr? Mein verstorbener Gemahl ist in seiner Jugend mit Begeisterung gereist. Er erzählte mir von seinem Besuch in Venedig. Wir müssen unbedingt den Markusplatz besuchen und uns den Dogenpalast ansehen, während dein Onkel seinen Geschäften nachgeht, Kathryn.“
Sie hatten beschlossen, dass Kathryn ihre liebenswürdigen Freunde als Tante Mary und Onkel Charles betrachten sollte.
„Wir mögen keine Blutsverwandten sein“, hatte Charles Mountfitchet ihr zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise mitgeteilt, als sie sich in London auf den Weg machten, um Lady Mary zu treffen. „Aber wir werden einige Zeit lang wie eine Familie zusammenleben, und aus diesem Grund sollten wir uns miteinander wohlfühlen.“
Kathryn war sehr gern dazu bereit gewesen, ihn als Onkel ehrenhalber anzunehmen, denn sie fühlte sich ihm schon seit Kindertagen eng verbunden. Und in all den Jahren nach Dickons Entführung hatten sie sich gegenseitig Trost gespendet. Sie liebte ihn mehr als sonst jemanden, abgesehen von ihrem Vater und ihrem Bruder.
„Oh, ich will alles mit Euch teilen“, sagte sie jetzt. Ihre Augen glühten vor Begeisterung, und es war ihr anzusehen, dass sie derartige gemeinsame Erlebnisse vermisst hatte. Schon während der Überfahrt leuchteten ihre Augen, und sie hatte nicht unter der Seekrankheit gelitten wie Lady Mary. „Und du wirst dich viel besser fühlen, wenn du erst wieder an Land bist, Tante“, tröstete sie ihre „neue“ Verwandte.
„O ja, das werde ich. Ich wünschte nur, ich müsste nicht noch weiter“, erwiderte Lady Mary nachdrücklich. „Ich ahne, dies ist nur ein vorübergehender Aufschub. Da mein Bruder aller Voraussicht nach auf Zypern eine Bleibe finden möchte, so müssen wir wohl oder übel noch einmal in See stechen.“
„Ich weiß, er hat vor, seinen eigenen Wein anzubauen“, erwiderte Kathryn. „Aber wer weiß? Vielleicht ändert er seine Pläne.“
„Du denkst na